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Meister Li und der Stein des Himmels

Meister Li und der Stein des Himmels

Titel: Meister Li und der Stein des Himmels
Autoren: Barry Hughart
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verstehen, was man nicht verstehen
muß. Vielleicht genügt es zu wissen, daß die Göttin die Würfel zu einem letzten
verzweifelten Wurf in der Hand hält, und wir können nur beten, daß sie richtig
fallen. Schließlich müssen wir annehmen, daß der pulsierende Stein eines der
wichtigsten Dinge im Universum ist. Weshalb sonst hätte sie sich die ganze Mühe
mit Mondkind gemacht ?«
    Mondkind starrte ihn an.
Ich auch. Der alte Mann warf den Kopf zurück und lachte, bis ihm die Tränen
über die Wangen liefen.
    »Was für ein Geschöpf ist
Mondkind !« prustete er. »Mein Junge, du bist
einerseits die Apotheose der Schönheit, der Verantwortungslosigkeit, der
wilden, ungezügelten Sexualität, und andererseits ist keine böse, unfreundliche
oder auch nur unangenehme Faser an dir .« Meister Li
schüttelte verwundert den Kopf. »Wir können sicher sein, daß Kunst im Spiel
ist, denn eine solche Verbindung von Exzeß und Unschuld findet sich in der
Natur nicht. Du hättest unmöglich die schuldlose Sünde zur Vollkommenheit
bringen können, ohne vorher mit den üblichen zu experimentieren, und als Ochse
und ich dich vor dem Spiegel Vergangener Existenzen beobachtet haben, spielte
unser Unterbewußtes ein Duett. Bei Buddha! Was für eine Folge von
Inkarnationen. Von Gemeinheit über Verderbtheit und Bosheit zur Monstrosität.
Und alles gipfelte in der Inkarnation als die ausschweifendste und
unwiderstehlichste Hure, die je ihren Hintern über die Seiten der Geschichte
geschwenkt hat !« Meister Li wischte sich die Tränen
aus den Augen und zwinkerte mir zu. »Komm schon, Ochse, du hast sie doch
bestimmt auch erkannt. Ich dachte, jeder Junge in ganz China kennt die
unanständigen Stellen ihrer Biographie auswendig .« Ich
erinnerte mich, Mondkind im Spiegel als Frau gesehen zu haben, und ich begriff,
er war eine Frau gewesen. Ich wurde knallrot. Plötzlich erschien mir
seine unglaubliche Schönheit vollkommen logisch, und ich wußte, wer die Dame im
Spiegel gewesen war.
    »Goldene Lotusblüte«, sagte
Meister Li glücklich. »Mondkind wandelte einmal als männerverschlingende
Verführerin über die Erde, und sie war so aufsehenerregend unmoralisch, daß sie
in den Himmel kam, um die größte Schutzherrin der Prostituierten aller Zeiten
zu werden. Ich vermute, die Göttin Nu Kua begann, sich Gedanken über
eigenartige Kombinationen von Ch'i und Shih zu machen, als
Goldene Lotusblüte über die Perlenwege tänzelte und den jungen Göttern den Kopf
verdrehte. Man entfernte Goldene Lotusblüte aus ihrer Stellung und gab ihr eine
neue Gestalt. Erinnert ihr euch ?«
    Ich erinnerte mich an
Mondkind im Spiegel. Er hatte sich verändert und doch nicht verändert, war
immer noch schön, verschmolz jedoch mit leuchtenden Farben, hob das Gesicht und
die Arme zur Sonne, beinahe wie ...
    »Eine Blume«, sagte Meister
Li leise. »Eine schöne, fehlerhafte Blume namens Purpurperle. Man pflanzte sie
so, daß ein fehlerhafter Stein sie finden mußte, und der Stein brachte Tau und
Regentropfen, um die Blume damit vom Bösen zu reinigen. Die Blume verliebte
sich in den Stein und gelobte, ihre Schuld zu begleichen, indem sie jede Träne,
die sie hatte, vergoß. Es kann Jahrhunderte, sogar Jahrtausende unserer
Zeitrechnung dauern, bis eine Blume wiedergeboren wird. Aber die größte Tugend
des Steins ist die Geduld .« Mondkind bekam große,
staunende Augen. Meister Li nahm den Stein, dessen drei Stücke nun wieder
zusammengefügt waren, und legte ihn Mondkind in die Hände. Dann griff er nach
dem Weinschlauch und stand auf. »Das scheint sehr albern zu sein, aber was
soll's«, sagte er. »Leg die Hände fest um den Stein, Mondkind, schließ die
Augen. Versuch, dir eine wasserlose Stelle nahe am Fluß der Geister
vorzustellen. Trockenheit und Verwelken, und dann einen treuen Stein, der mit
dem Morgentau des Himmels herbeifliegt.«
    Mondkind schloß die Augen
und hielt den Stein fest in den Händen. Meister Li wartete, hob dann den
Weinschlauch und träufelte himmlischen Nektar auf Mondkinds Kopf. Die Wirkung
war keineswegs albern. Mondkind begann zu zittern und preßte den Stein an sein
Herz. Über seine Lippen kamen unbeschreiblich melodische Töne, aus denen
allmählich Worte entstanden ...
    »Liebe... Liebe... aber ich
habe keine Tränen... Selbst als Kind konnte ich nicht weinen... Wie kann ich um
einen Stein weinen ... Liebe... Liebe ... Liebe ... Aber ich kann nicht
weinen...«
    Meister Li bedeutete mir,
ihm zu folgen.
    »Wir werden
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