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Meister Li und der Stein des Himmels

Meister Li und der Stein des Himmels

Titel: Meister Li und der Stein des Himmels
Autoren: Barry Hughart
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sprechen ... wie ist er denn zu seinen fröhlichen Gesellen
gekommen ?« fragte Meister Li.
    »Nur durch meine Schuld.«
Der Prinz zog eine Grimasse und gab sich einen Klaps auf die Wange. »Vielleicht
war ich etwas frühreif, als ich meinen Ahnen entdeckte, aber ich war immer noch
ein Kind. Eines Tages hatte ich vergessen, ihn in der Grabkammer
einzuschließen. Und um die Sache zu verschlimmern, verreiste ich auch noch
längere Zeit. Bei meiner Rückkehr entdeckte ich, daß er die Gelegenheit genutzt
hatte, um im Mondlicht Wanderern aufzulauern, die er erwürgte, weil er
Gefährten wollte, die seine Freuden teilten. Ochse, ich bin dir sehr
verpflichtet, denn du hast ihn erledigt. Sonst hätte ich es nämlich tun müssen,
und ich wußte noch nicht, wie ich es anfangen sollte .«
    Ich fand, Prinz Liu Pao
mußte der unheimlichste frühreife Junge gewesen sein, den es je gegeben hat. Mit
dreizehn Jahren hatte er zwei Gärtner, seine Freunde, ermordet, nachdem sie für
ihn einen Sarkophag geöffnet und ein kostbares Jadegewand gefunden hatten,
nachdem sie vorsichtig Jade-blättchen entfernt hatten, damit er einen Blick auf
eine Mumie werfen könnte, und er statt dessen in das halb verweste Gesicht
eines Ungeheuers geblickt hatte, das immer noch atmete. Er hatte gelernt, die
Kreatur durch den Ton eines Steins unter Kontrolle zu halten - ein
Dreizehnjähriger mit der Reife eines Neunzigjährigen und dem Herzen eines
Henkers. Die Augen des Henkers wurden weich, als er den Blick langsam auf
Klagende Morgendämmerung richtete. Er breitete die Arme in einer hilflosen
Geste aus. »Ich möchte, daß Ihr wißt, daß ich sie wirklich geliebt habe«, sagte
der Prinz ruhig. »Ich stand mit dem Rücken zur Wand und mußte eine schwere
Entscheidung treffen .«
    »Diese Entscheidung habt
Ihr schon vor langer Zeit getroffen, und zwar, als Ihr beschlossen hattet, Eure
Seele für die Geschenke eines Steins zu verkaufen«, erklärte Meister Li
sachlich. »Klagende Morgendämmerung entschied sich genau anders - ach übrigens,
Mondkind, kannst du mit diesem Stück den Seelenton hervorbringen ?«
    Meister Li warf Mondkind
das Stück des Steins zu, das er beim Lachenden Prinzen gefunden hatte. Aber
Mondkind schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, nicht mit einem flachen Stück.
Ich brauche mindestens zwei .« Mondkinds Stimme verriet
mir, daß er das Ganze für einen Alptraum hielt. Meister Li nickte. Er stand
auf, ging zu Klagende Morgendämmerung hinüber und griff nach seinem Messer. Es
floß kaum Blut, als er das gesplitterte Holz aus ihrer Brust entfernte. Er
suchte in der Wunde, fand etwas, wusch es in Wein und trocknete es an seinem
Gewand ab. Dann warf er es Mondkind zu, und ich sah, daß es eine kleine,
scharfe Steinspitze war.
    »Ich hatte mich geirrt«,
sagte Meister Li. »Ich dachte, Klagende Morgendämmerung sei in einer früheren
Inkarnation Tou Wans Zofe gewesen. In Wirklichkeit hat sie diese Inkarnation
nie hinter sich gelassen. Tou Wan wollte sie mit der Haarnadel erstechen. Die
Spitze brach in ihrem Herzen ab, und deshalb lebte sie weiter. Sie floh, die
Soldaten, die sie verfolgten, schlugen ihr auf den Kopf und hielten sie für
tot. Der Stein brachte sie wieder ins Leben zurück, und die Zofe wanderte ohne
Erinnerung durch die Welt, bis die alte Tai-tai sie aufnahm, ihr ein neues
Zuhause und einen neuen Namen gab .«
    Meister Li legte Mondkind
die Hand auf die Schulter, kam zurück, legte mir die Hand auf die Schulter und
setzte sich neben seinen Weinschlauch.
    »Trauert nicht um Klagende
Morgendämmerung«, sagte er ruhig. »Erinnert ihr euch daran, wie sie im Delirium
gesungen hat, weil sie glaubte, dadurch die Schmerzen der alten Frau zu
lindern, die sie liebte? Sie trug im Herzen ein Geschenk des Himmels, das ihr
rechtmäßig nicht gehörte. Wenn sie gewollt hätte, wäre keine Frau der
Geschichte mehr verehrt, mehr gefeiert worden als sie, aber sie wollte sich nicht
an Lug und Trug beteiligen. Es ist falsch, so zu singen, hat sie
gesagt, es ist wie Stehlen. Ich habe keine Ahnung, wie ihr seltsames, unstetes
Leben verlief. Ich weiß auch nicht, wie und warum sie durch die Welt zog, ohne
daß sich ihre Erinnerungen wieder einstellten. Aber ich weiß, daß sie sich
siebeneinhalb Jahrhunderte geweigert hat, dem Himmel etwas zu stehlen. Man wird
sie im Reich der Schatten mit den höchsten Ehren empfangen. Mit dem Guthaben
auf ihrem Konto könnte man das halbe Reich kaufen, und bestimmt wird man ihr
gestatten, zum Berg
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