Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meister Li und der Stein des Himmels

Meister Li und der Stein des Himmels

Titel: Meister Li und der Stein des Himmels
Autoren: Barry Hughart
Vom Netzwerk:
K'un-lun aufzusteigen und zu Füßen des Himmlischen
Jadekaisers zu sitzen. Das ist sehr viel mehr, als Prinz Liu Pao erreichen wird .« Meister Li blickte kalt und voll Verachtung über die
Schlucht auf den Prinzen.
    »Er hat bereits fünf
Menschen ermordet, um seinen Tuschpinsel in die Steinschale zu tauchen, den
Pinselstrich des Himmels zu stehlen, hübsche Bilder zu malen und sie als die
eigenen auszugeben .«
    Meister Li spülte den Mund
mit Wein und spie ihn aus. »Lug und Trug«, knurrte er. »Die Fäulnis wird mit
Farbe überdeckt und mit Lügen vergoldet .« Der Prinz
wurde blaß.
    »Seid Ihr dieser Ansicht,
alter Mann ?« flüsterte er. »Glaubt Ihr das wirklich ?« Er wurde rot. »Meine Bilder gehören mir. Ich zeige sie
niemandem. Was ist daran Betrug ?« »Onanie«, sagte
Meister Li. »Und in Eurem Fall kommt das immer noch einer Vergewaltigung gleich .« »Meine Bilder dienen dem Zweck, die Wege der universellen
Kraft zu erforschen«, rief der Prinz zornig. »Mein abscheulicher Ahne suchte
die Wahrheit in Strömen von Blut. Ich suche sie in harmloser Farbe, und sogar
der Lachende Prinz konnte für sich in Anspruch nehmen, daß er das richtige Ziel
der Philosophie im Auge hatte! Ihr, andererseits, verschwendet Eure Zeit mit
unwichtigen Rätseln, und das sind Kindereien !«
    Meister Li hob den
Weinschlauch, nahm einen großen Schluck und wischte sich die Lippen mit dem
Bart ab. »Oh, ich halte das Rätsel des Steins keineswegs für unwichtig«, sagte
er gelassen. »Ich bekenne mich jedoch schuldig, an einer gewissen kindlichen
Vorstellung vom Universum festzuhalten .«
    Das Gesicht des Prinzen
bekam wieder seine normale Farbe. Er hob den Lederbeutel, trank und lehnte sich
zurück. »Kindlich? Nein, aber sehr altmodisch«, sagte er und lachte leise.
»Alles, was Ihr tut, ist altmodisch. Wer würde heutzutage quer durch China und
sogar bis in die tiefste Hölle stürmen, weil er seinen Erfahrungen mehr traut
als der Objektivität eines ganzen Expertenheers? Ihr scheint die
anthropo-morphen volkstümlichen Vorstellungen von Göttern und Göttinnen ernst
zu nehmen, und Euer Interesse an dem Stein scheint dem unbedingten Glauben an
die Märchen in den angeblichen Annalen von Himmel und Erde zu entspringen. Li
Kao, Ihr seid ein sehr großer Mann, aber - und ich sage das mit der größten
Achtung -, Ihr seid das alte Monument längst gestorbener Auffassungen,
Praktiken und Werte .«
    Prinz Liu Pao hob lachend
seinen Stein hoch. Ich sah, daß er ihn an einer Schnur um den Hals trug und die
silberne Kapsel entfernt hatte, in der er normalerweise lag. Meister Li beugte
sich vor, flüsterte mir etwas zu, und ich flüsterte verstohlen mit Mondkind.
    »Er sagt, du sollst dich bereit halten , mit den beiden Steinstücken den Seelenton
hervorzubringen. Er wird rufen, wenn es soweit ist .«
    Mondkind starrte ins Leere,
und er versuchte, sich zu konzentrieren. Seine Finger zitterten, als er die
beiden Steinstük-ke in den hohlen Händen hob.
    »Trotzdem sind einem alten
Monument mit einem kleinen Charakterfehler gewisse Freuden versagt«, rief der
Prinz. »Zum Beispiel, den schlichten Ton völliger Unschuld zu hören. Ich glaube
jedoch, daß in dieser Entfernung und mit der akustischen Verstärkung der
Felswände hinter uns...« »Jetzt !« rief Meister
Li.
    Mondkinds Lippen näherten
sich den gewölbten Händen. Sein Kehlkopf begann, sich unglaublich schnell zu
bewegen, und mir hüpfte das Herz, als eine unbeschreibliche Schönheit,
Sehnsucht, Hoffnung und Trauer von den Felswänden widerhallte.
    Kung... chang... hueeeeeeeeeeeeeehh....
    Meister Li schwankte, aber
seine Reaktion war nichts im Vergleich zu der des Steins, den Prinz Liu Pao in
der Hand hielt. Er sprang dem Prinzen aus der Hand und flog buchstäblich
Mondkind entgegen. Die Schnur um den Hals des Prinzen spannte sich ruckartig
und zog ihn vorwärts. In meiner Naivität begriff ich erst jetzt, was der Prinz
uns hatte antun wollen. Der Abgrund war nur wenige Schritte entfernt, und in
zweihundert Fuß Tiefe ragten zerklüftete Felsen auf. Prinz Liu Pao schwankte am
Rand, hob die Arme, um das Gleichgewicht zu halten, und dann fiel er. Ich
schloß die Augen. Als ich sie wieder öffnete, sah ich ein Wunder. Der Prinz
stand in der Luft. Er ging über das Nichts und versuchte, den Stein
zurückzuhalten und wieder unter Kontrolle zu bringen. Dann sah er uns an und
lächelte. »Li Kao, habt Ihr wirklich geglaubt, ich hätte nicht damit gerechnet ?« fragte er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher