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Meines Bruders Moerderin

Meines Bruders Moerderin

Titel: Meines Bruders Moerderin
Autoren: Irene Rodrian
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schmolz der Asphalt.
    Die alten Bürgerhäuser waren in den letzten Jahren renoviert und frisch verputzt worden. Regelmäßig geölte Jalousien verschlossen die französischen Fenster, und helle Markisen bedeckten die Balkone. Hier gab es kaum noch Geschäfte und Cafés. Die Bänke unter den Bäumen waren leer.
    Nur der kleine Junge mit dem Roller fuhr unermüdlich seine Runden. Er hatte dunkelblaue Ledersneakers an, dazu graue Bermudas mit Bügelfalte, ein hellblaues Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und eine grau-gelb-blaue Krawatte.
    Ein weißer Citroën Berlingo stand halb auf dem Gehweg im löchrigen Schatten einer Platane. Der Mann am Steuer trug eine schwarze Uncle Sam-Snapcap und eine verspiegelte Sonnenbrille. Sein linker Arm ragte aus dem Fenster, die Finger waren oben in die Dachrinne gehakt. Ein knappes rotes Muscleshirt zeigte den durchtrainierten Körper und ein gewaltiges Tattoo auf Schulter und Oberarm: rot züngelnde Flammen und davor ein gelbäugiger Tiger mit langen spitzen Zähnen im weit aufgerissenen Maul.
    Der Mann schnippte eine bis auf den Filter heruntergerauchte Zigarette aus dem Fenster, sie verglühte auf einem Berg anderer Kippen. Neben ihm auf dem Beifahrersitz lag ein auf die Hälfte zusammengefaltetes Blatt Papier mit Schmutzspuren und zerfransten Ecken. Er nahm es hoch und klappte es auf. Ein digitales Farbfoto. Blauer Himmel, blaues Meer. Ein Junge kam aus dem Wasser gerannt und lachte in die Kamera. Er schob eine kleine Bugwelle vor sich her. Das nasse Haar klebte ihm wie eine Kappe auf dem Kopf, sein dünner Kinderkörper war braun gebrannt, die roten Badeshorts rutschten ihm über die Hüften. Kein Zweifel, es war derselbe Junge.
    Jetzt legte er sich in die Kurve und kam ganz nah am Citroën vorbei. Der Mann duckte sich unwillkürlich, aber der Junge nahm ihn gar nicht wahr.
    Der neue Scooter blinkte silbern in der Sonne, und die Bladeräder glitten fast lautlos über den Asphalt. Und dennoch: Es war kein Kickboard. Sergi fuhr mit einer Hand und zog einen Bogen, aber der Scooter reagierte nur langsam und schwerfällig. Die Großmutter hatte ihm immerhin den Scooter zum Geburtstag geschenkt. Aber sie sah die Unterschiede zwischen einem Scooter und einem Kickboard nicht, und sie verstand auch nichts, wenn er es ihr zu erklären versuchte. Zwei oder drei Räder, Lenker oder Knauf, Kinderkram oder Sportgerät. Für sie waren das alles nur diese neuen kleinen Roller.
    Seit neun Monaten, seit Weihnachten war ein Kickboard Sergis allergrößter Wunsch gewesen. Aber der Vater machte es wie alles andere von den Mathenoten abhängig. In dem Fall hätte er nie eins bekommen. Sergi hasste Mathe, er verstand Zahlen einfach nicht. Er begriff nicht, wie sie zusammenhingen und was an ihnen so wichtig sein sollte. In allen anderen Fächern war er gut, aber für den Vater zählte nur Mathe. Mama hatte sowieso nie Zeit. Sie kaufte ihm Klamotten, meistens Anzüge oder alberne Blazer, aber er zog sie an. Nicht nur in der Schule. Einmal hatte sie auf einer fiesta mit ihm getanzt, das vergaß er nie. Das hätte in Jeans nicht halb so gut ausgesehen hatte sie gesagt. Und sie richtete ihm jedes Jahr eine Geburtstagsparty aus. Mit Torten und Luftballons, mit einem Zauberer und allen seinen Freunden. Aber dem Vater widersprach sie nie. Sie ging ihm aus dem Weg. Sergi konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt einmal etwas zusammen unternommen hatten. Nur sie drei, ohne Großmutter und ohne Onkel Eduard. Oder einfach nur ferngesehen, wie das die Eltern seiner Freunde taten. Der Vater war ein berühmter Architekt und keiner durfte ihm etwas sagen, außer der abuela, seiner Mutter. Die setzte immer ihren Kopf durch. Aber sie machte das geschickt, sie nickte und sagte si, si, aber dann machte sie doch, was sie wollte. Wie mit dem Scooter. Der Vater hatte es verboten, aber an Sergios Geburtstag hatte er doch vor der Tür gestanden. Mit einer roten Schleife am Lenker.
    Sergi fuhr eine neue Kurve, flitzte über den Asphalt, sah sich schon hinausfahren, immer weiter, raus aus Barcelona, den grünen Berg hinauf bis zum Tibidabo. Er warf sich erneut herum und raste zurück.
    Und sah sie.
    Zuerst dachte er, es wäre ein Junge. Aber es war eine Frau, und viel zu alt für das supercoole Kickboard, das sie fuhr. Aber fahren konnte sie! Sie legte sich so steil in die Kurven, dass jeder andere umgekippt wäre, und sie sprang locker hundertachtzig Grad Volten wie mit einem Skateboard. Sergio fuhr full speed weiter, sie
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