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Meine total wahren und ueberhaupt nicht peinlichen Memoiren mit genau elfeinhalb

Titel: Meine total wahren und ueberhaupt nicht peinlichen Memoiren mit genau elfeinhalb
Autoren: Friedrich Ani
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weiterzuessen. Mit dem Papier von der Küchenrolle, das mir meine Ma als Serviette hingelegt hatte, wischte ich mir über den Mund und stand auf. Als ich an meinem Vater vorbeiging, sagte er:
    »Schweig-schweig.« Oder so was Ähnliches. Ausnahmsweise hätte ich ihm echt gern eine Antwort gegeben. Aber das klappte nicht. Als hätte ich meine Stimme im Traum vergessen, und die flackte jetzt in der Lobby, und alle trampelten drauf rum.

Drei
    Immer noch Freitag
    »Jetzt mal ehrlich«, sagte Vitali auf dem Schulhof. »Wieso redest du nichts? Das nervt, Alter. Was ist?« Er schlug mir gegen die Schulter.
    Dieser Vormittag war ziemlich schlimm. Bis zur ersten Stunde lief alles normal. Niemand fragte mich was. Der Lehrer schaute an mir vorbei und ich an ihm. Ich saß da und dachte an irgendwas. Das stimmt nicht. Ich dachte nicht an irgendwas, ich dachte an was GANZ BESTIMMTES.
    Ich dachte und dachte, und das ging bis zum Ende der zweiten Stunde gut. Dann kam Frau Doktor Leubl und diktierte uns einen Aufsatz. Einen Aufsatz! An einem Freitag!
    Schon beim Schreiben hatte ich vergessen, worum es ging. Und danach passierte genau das, was nicht passieren durfte und dauernd passiert: Ich musste vor der Klasse meinen Aufsatz vorlesen. Erst ich, dann Ole. Das war schon im letzten Jahr so. Meistens müssen wir beide vorgehen, Schoppenhammer und ich. So konnte Frau DoktorLeubl beweisen, was eine flüssige, ansprechende, bunte Sprache ist und was nicht.
    Flüssig, ansprechend, bunt.
    Wenn ich meinen Vater frage, ob in seinen Büchern eine flüssige, ansprechende und bunte Sprache vorkommt, fragt er mich, was eine bunte Sprache ist.
    Unflüssig, unansprechend und unbunt stand ich an diesem Freitag vor der Klasse und brachte keinen Ton raus. Nicht einen. In meinem Heft stand was, das stand fest. Aber ich konnte es nicht ablesen. Lesen ja, aber nicht ablesen.
    »Was ist denn, Simon?«, fragte Frau Doktor Leubl. Meine Hand zitterte, erst die linke, dann die rechte, dann alle beide.
    »Was ist denn, Simon?«
    Note 5. Dann kam Ole und kriegte eine 2. Und in der Pause nervte mich Vitali.
    »Was hast du? Das ist ja peinlich. Red doch was! Spinnst du? Hast du einen Alptraum gehabt, der dich so geschockt hat, dass du stumm geworden bist?«
    Er kaute auf seiner Butterbreze rum, schlug mir wieder gegen die Schulter und schüttelte den Kopf wie meine Ma beim Frühstück.
    Plötzlich ertönte eine Stimme hinter mir.
    »Simon. Ich muss dringend mit dir reden.«
    Versteh ich, dachte ich und rannte los.
    Ich rannte die Straße runter und rannte über alle Kreuzungenund über den Mittleren Ring und bis in den Englischen Garten. Der Schweiß lief mir in Strömen übers Gesicht. Luft kriegte ich auch keine mehr.
    Ich durfte nicht stehen bleiben. Wenn ich stehen bleibe, versinke ich im Boden und tauche nie wieder auf. Ich wollte nicht verschwinden, ich wollte was sagen. Ich schwör’s. Ich spreche eigentlich gern, wenn mir was einfällt.
    Zwischendurch fiel mir ein, dass mein Schulranzen noch in der Schule war. Das war nicht wichtig, das war total unwichtig.
    Ich wollte in den Englischen Garten und zu meinem Lieblingsort: weil ich da immer bin, wenn die Welt um mich rum wieder mal zu groß ist. Und zu laut. Oder zu leise. Wenn ich so verwirrt bin wie in dem Traum mit dem fliegenden Lift.
    So verwirrt wie an diesem Freitag im Juli war ich noch nie.
    Und so viel Angst hatte ich auch noch nie gehabt. Eigentlich hatte ich gar keine Angst. Das war keine richtige Angst, das war was total anderes.
    Weil das, was wirklich mit mir los war, total anders war als alles, was bis jetzt mit mir los gewesen war.
    Unter der Angst war was versteckt. So wie ich in der Früh unter der Decke versteckt bin. Vielleicht wäre es schön gewesen, wenn jetzt meine Ma gekommen wäre und meine Angst einfach weggezogen hätte.
    Drunter lag was total Aufregendes versteckt. Deswegen hatte ich doch so rennen müssen: weil ich sonst vor Aufregung geplatzt wäre.
    Vielleicht war meine Stimme geplatzt. Die war nämlich nicht mehr da. Seit heut Morgen.
    Ich war stumm.
    Und ich wusste, dass ich meine Stimme NICHT im Traum vergessen hatte. Niemand vergisst seine Stimme im Traum, kein Mensch und kein Hund.
    Ich riss meinen Mund so weit auf wie ich konnte. Ich keuchte und röchelte und stöhnte, und mir wurde schwindlig vor lauter Schnaufen.
    Wegen dem, was unter der Angst war, hatte ich keine Stimme mehr, keinen einzigen Buchstaben.
    Ich wusste genau, was unter der Angst war. Aber ich wollte
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