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Meine Tiere, mein Leben

Meine Tiere, mein Leben

Titel: Meine Tiere, mein Leben
Autoren: James Herriot
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legte mir die Hand auf den Arm und sah mir ins Gesicht – »ich denke, sie ist ein bisschen drastisch.«
     
    Ich fuhr vom Hof und hielt an der windabgewandten Seite einer Bruchsteinmauer noch einmal an. Eine große Müdigkeit hatte mich überfallen. Derartige Erlebnisse taten mir nicht gut. Ich war nicht mehr der Jüngste – Ende dreißig – und verkraftete derartige Schocks nicht mehr so wie früher. Ich drehte den Rückspiegel nach unten und sah mich an. Ich war ein wenig blass, aber nicht so grässlich blass, wie ich mich fühlte. Dennoch ließen sich das Schuldgefühl und die Bestürzung nicht vertreiben, und auch nicht der ständig wiederkehrende Gedanke, dass es einfachere Mittel und Wege geben musste, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, als die eines Tierarztes auf dem Lande. Vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche, hart, schmutzig und gespickt mit traumatischen Vorfällen wie dieser Beinahe-Katastrophe gerade eben. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen.
    Als ich sie ein paar Minuten später wieder öffnete, war die Wolkendecke aufgerissen, und die Sonne kam durch, erweckte die grünen Hügel und glitzernden Schneehänge zu neuem Leben und malte die Felsvorsprünge golden an. Ich kurbelte das Fenster hinunter und atmete die kalte, reine Luft ein, die frisch und scharf vom Moor hoch über mir heruntergeweht kam. Der Schrei eines Brachvogels gellte durch die Stille, und auf der grasbewachsenen Straßenböschung sah ich die ersten Schlüsselblumen dieses Frühjahrs.
    Allmählich kehrte Frieden in mir ein. Vielleicht hatte ich ja bei Mr. Kettlewells Pferd gar nichts falsch gemacht. Vielleicht lösten Antihistamine manchmal solche Reaktionen aus.
    Als ich den Motor anließ und davonfuhr, stieg jedenfalls das alte Gefühl in mir auf, das mich innerhalb von Minuten wieder ganz erfüllte: Es war gut, in dieser aufregenden Landschaft mit Tieren arbeiten zu können; ich hatte Glück, Tierarzt in den Yorkshire Dales zu sein.
     
     

10 - Fröhliche Weihnachten
     
    DIESER KLANG WAR ANDERS . Ich war beim Läuten der Glocken eingeschlafen, die vom Kirchturm her zur Mitternachtsmesse riefen, aber jetzt drang ein durchdringender, schriller Ton an mein Ohr.
    Es fiel mir schwer, das Gefühl der Unwirklichkeit abzuschütteln, das ich seit gestern Abend empfand. Gestern – Heiligabend. Alle Erwartungen, die ich je von Weihnachten gehegt hatte, waren erfüllt worden, ich war tief bewegt. Diese Gemütsbewegungen waren in mir erwacht, als ich am Nachmittag in ein kleines Dorf gerufen wurde, wo hoher Schnee die einzige Straße, die Mauern und die Gesimse der Fenster bedeckte, in denen die Lichter der mit Flitterwerk geschmückten Tannenbäume rot, blau und golden glänzten; und auf dem Nachhauseweg fuhr ich in der Abenddämmerung unter den verschneiten Ästen einer Gruppe von dunklen Fichten hindurch, die so still und regungslos dastanden, als seien sie auf den weißen Hintergrund der Felder gemalt. In Darrowby war es bereits dunkel, die kleinen Läden um den Marktplatz waren mit Tannenzweigen geschmückt, und das Licht der Schaufenster fiel in einem sanften gelblichen Schimmer auf den niedergetretenen Schnee des Kopfsteinpflasters. Bis zur Unkenntlichkeit vermummt und vorsichtig Fuß vor Fuß setzend, damit sie nicht ausrutschten, machten die Leute ihre letzten Einkäufe.
    Ich hatte in Schottland viele Weihnachten erlebt, aber sie waren immer hinter den Neujahrsfeiern zurückgeblieben; man kannte dort nicht jene Atmosphäre unterdrückter Erregung, die damit begann, dass die Leute sich schon Tage vor dem Fest gute Wünsche zuriefen, dass farbige Lichter auf den einsamen Berghängen blinkten und die Bauersfrauen, die Füße unter einem Berg von Federn begraben, die fetten Gänse rupften. Und volle zwei Wochen lang hörte man die Kinder auf den Straßen Weihnachtslieder anstimmen und anschließend an die Türen klopfen, um ihren Lohn in Empfang zu nehmen. Und am schönsten von allem gestern Abend der Gesang des Methodistenchors draußen, der die stille Nachtluft mit sattem, erregendem Wohlklang erfüllt hatte.
    Ich beschloss, vor dem Schlafengehen noch einmal auf den Marktplatz zu gehen. Als ich das Haus verließ, fingen gerade die Kirchenglocken an zu läuten. Der Platz lag verlassen, das weiße Rechteck erstreckte sich glatt, kalt und menschenleer unter dem Mondlicht, und es lag ein Hauch von Dickens über den Häusern und Läden, die den Platz umstanden. Als sie errichtet worden waren, hatte noch
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