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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin
Autoren: Yvonne Hirdman
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Madame geleitet, die auf einem lit de parade , einem ausladenden Paradebett, lag. Und die Madame verschwendete keinen Gedanken daran, dass die junge Dame eine drei Tage und zwei Nächte dauernde Reise hinter sich hatte, und bot ihr noch nicht einmal einen Stuhl an. »Doch da«, so Emilie, die noch viele Jahre danach stolz war auf ihr junges, verwegenes Ich, »da zog ich einen Stuhl heran und sagte: ›Ihr erlaubt? Ich bin sehr müde‹, und diese Geste war es – wie ich später erst begriff –, die mir […] eine ganz besondere Stellung einräumte.«
    Doch als daraus Wirklichkeit wurde, als sie tatsächlich als kleine Gouvernante in diesem großen Schloss voller Bediensteter unterschiedlichster Hierarchien lebte, da war ihr längst nicht mehr so selbstbewusst zumute. Wo befand sie sich auf dieser Skala? »Bin ich Fisch oder Fleisch?«, hält sie in ihrem Tagebuch fest. Sie war natürlich über dem Gesinde
angesiedelt, zugleich aber auch unbestritten unter » la bonne société «, der feinen Gesellschaft. Bestimmt fühlte sie sich ein bisschen einsam; ich glaube, dass ihr in Gegenwart der sechs Kinder – eines hübscher als das andere – am wohlsten war. Und im Herbst und Winter 1904-1905 vertraut sie sich ihrem Tagebuch an.
    Die Gedanken an ihre Liebe aus Bukarest lassen sie nicht los – und sie fragt sich, »warum hat er mich betrogen? Warum war er nicht aufrichtig? Warum hat er sich in mein zartes Herz gedrängt? Jetzt ist alles vorbei. Indem ich die Liebe und deren Wonnen weit hinter mir lasse, werde ich mir immer ›vorwärts!‹ sagen.«
    Jetzt gleicht das Leben einer »Pilgerfahrt«, jetzt findet sogar manchmal Gott Erwähnung; zwischen Arbeit, Pflicht und dem Kampf – ja, dem Kampf! »Lasst uns arbeiten, lasst uns kämpfen, lasst uns beten, und – gebe Gott – wenn die Pflicht vollführt ist, so soll sie uns ein Glücksgefühl schenken, das unserem Streben genügt.« Ein »denkendes Atom« will sie werden, schreibt sie, »ein Atom, das Gott preist, ein mildtätiger Engel, auch wenn es womöglich wie ein verrückter Jungmädchentraum klingt, aber das ist mein Traum!«
    »Die Jahre vergehen«, notiert sie panisch und sieht, nach Anzeichen forschend, in den Spiegel – ist da nicht ein leichter Schatten unter dem Auge, der gestern noch nicht dagewesen ist?
    »Bald zweiundzwanzig und keine Illusionen«, hält sie verzweifelt fest. Ihr Trost sind die Feder, das Papier und der Rhythmus:
    »22 Jahre alt und ohne Glauben an das Gute im
 Menschen!
    22 Jahre alt und der Wunsch, eine Frau zu sein!
    22 Jahre alt und trotzdem Liebe spüren, ersehnen,
 sie fürchten und vor ihr erbeben wollen!
    22 Jahre alt und nur Bücher als Freunde!
    22 Jahre alt und seine Gefühle nicht herausschreien
 können!
    22 Jahre alt und keine Freundin, die einen versteht!
    22 Jahre alt und einsam und isoliert auf einem Schloss
 in Livland …«

    So sitzt sie – weder Fisch noch Fleisch – in dem großen Schloss auf ihrem Zimmer und liest und schreibt, zum Trost und als Zeitvertreib, Gedichte ab. Mir kommen sie wie kleine, an mich gerichtete Botschaften vor, jetzt, hundert Jahre später, und ich glaube fast, ihre kleinen Seufzer zu vernehmen, gerade so, als wehte von der anderen Seite der Ostsee – wo sie in der winterlichen Dunkelheit sitzt und schreibt – ein winziger Hauch ihres Atems herüber.
    In ihrer freien Zeit tröstet sie sich also mit Büchern und Poesie. Sie fühlt sich – wie sollte es auch anders sein – zu den dramatischen Dekadenzdichtern, den Symbolisten und deren Weltschmerzlyrik hingezogen, wie zu diesem Gedicht von Maurice Maeterlinck:
    »Ich betrachte alte Stunden
    Unterm Brennglas meiner Reue,
    Seh' von neuem Flor entbunden
    Ihre tiefgeheime Bläue«

    Das ist doch schön. So wie auch der Titel von Gustave Kahns Heft Les Palais Nomades – ja, wie kann man das übersetzen? Nomadenpaläste? Oder dieses schöne Gedicht von Georges Rodenbach aus Le règne du silence – Die Herrschaft der Stille:
    »Ach, ihr seid meine Schwestern, ihr Seelen,
    Ihr, die ihr in der süßen Gleichgültigkeit der
 halbgeträumten Träume lebt
    Zwischen der einlullenden Einsamkeit der Städte
    Die entlang der irren Flüsse dahindämmern«

    Kein Wunder, dass sie zur leichten Beute für einen jungen Mann wird. Kein Wunder, dass es nur ein paar Sommermonate dauert, bis am 18. August 1905 eine einzige, lakonische Zeile in ihrem kleinen Tagebuch zu finden ist: » Je me suis fiancée, une nouvelle vie va commencer« – »Ich
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