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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin
Autoren: Yvonne Hirdman
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Ich kenne ja nur ein paar Einzelheiten aus ihrem Leben: Wo sie geboren wurde, dass sie mal hier, mal dort gelebt hat – hier ein Graf, da ein Kommunist, hier Moskau, und dann, ja, dann kam sie in allerletzter Sekunde nach Schweden. Erinnerungsfetzen ziehen an mir vorüber, Erinnerungen an alte Kinderreime: Ins Bett, ins Bett, wer Liebchen hätt', wer keines hätt' geht auch ins Bett. Erinnerungen an die Gerichte, die sie kochte – Rindswurst mit Knoblauch und Tomatenpüree. Wie sie die Zigarette zwischen ihre vorstehenden Schneidezähne geklemmt hatte – sie beugt sich über den Herd, der Kippenberg wächst immer mehr an. Und da, ihre heisere Stimme, die vom Küchentisch herüberklingt, an dem sie und Papa sitzen, bevor sie ins Bett gehen; sie trinkt Schwarzen Johannisbeerschnaps. Erinnerungen sind zerbrechliche Fragmente, die zu Staub zerfallen und sich auflösen, wenn man sie zu sehr festhalten will.
    Aber so viel immerhin weiß ich, geht mir dann durch den Kopf – ich weiß, dass ihr Schicksal eng mit der Geschichte Europas verwoben ist: Geboren 1906 in Tartu (früher Dorpat), das damals noch russisch war, erlebte sie als Kind den Ersten, den »großen« Weltkrieg in der Bukowina – damals noch Teil des ausladenden Reiches Österreich-Ungarn. Tanzte mit ihrem Grafen Alexander Stenbock-Fermor durch das Berlin der Weimarer Republik, floh vor Hitler, lebte mit einem Kommunisten in Moskau, lernte in Frankreich unseren Vater kennen und kam gerade noch rechtzeitig – oder fast schon zu spät, kurz nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – nach Schweden.
    Ich könnte ja eine europäische Geschichte schreiben, denke ich so bei mir. Eine europäische Geschichte, in der meine Mutter irgendwie am Rande mitspielt, eine fesselnde und schöne Rolle einnimmt und faszinierend und aufregend erscheint, aber eben nicht im Vordergrund steht, sondern in die Geschichte eingebettet ist. Es bleibt mir schließlich keine andere Wahl, es existieren ja nicht mehr so viele Briefe und Tagebücher, als dass ich es anders aufziehen könnte. Und mir eine Mutter erdichten – niemals!

    Also fing ich an. Doch der Inhalt der grünen Kisten erwies sich als umfangreicher als gedacht. Ich war ja so etwas wie das Archiv unserer Familie geworden – bei mir sammelte sich alles, als meine Geschwister in die Welt hinauszogen und ich die Einzige war, die in Schweden blieb; die Haustochter, sozusagen. Und so behielt ich die ganzen Unterlagen, die mein Vater nicht weggeschmissen hatte, und seinen spärlichen Nachlass. Und ich verwahrte das, was Leni – meine Tante mütterlicherseits – hinterlassen hatte. Urplötzlich stand ich mit einer Fülle von Material da: Ich fand das Kleinmädchentagebuch, das meiner Großmutter, Emilie Redard, gehört hatte – ohne Einband zwar, aber die Tinte hob sich
noch immer schwarz gegen das cremeweiße Papier ab. Fand die Memoiren – oder vielmehr den Entwurf – von meinem Großvater Fritz Schledt. Fand dies, fand das. Stieß auf Unmengen von Briefen, Dokumenten, Gedichten, Zetteln. Ja, sogar Fotos!
    Und ich habe recherchiert; habe im Internet, dieser segensreichen Erfindung, recherchiert, wodurch ich mir endlich einen Eindruck davon verschaffen konnte, wie es an den unzähligen Orten ausgesehen hat, an denen diese Familie und die Frau, die später meine Mutter werden sollte, einst ihr Leben gelebt haben: Bukarest 1900, Dorpat 1906, die Bukowina, Berlin und so weiter.
    Im Netz und in alten, ehrenwerten Büchern habe ich so jede Menge Augenzeugenberichte aufgestöbert, die ihr Lebensumfeld beschrieben; manche davon sogar meine Mutter selbst. So fielen mir unter anderen Alexander Stenbock-Fermors und Margarete Buber-Neumanns Bücher und Memoiren in die Hände, in denen sich plötzlich ein kleines Aufblitzen, ein Rest, ein vager Umriss von ihr und ihrem Freundeskreis erhaschen ließ. All dieses Material, all diese Bücher habe ich im Anhang des Buches kapitelweise zusammengestellt.
    Durch meine Suche im Internet habe ich Menschen kennengelernt, die mir eine unschätzbare Hilfe waren. Das gilt vor allem für den Wissenschaftler Reinhard Müller, zu dem ich über einen Artikel, in dem es um Exilkommunisten im Moskau der Dreißigerjahre ging, einen Kontakt herstellen konnte. Sein großer Wissensschatz, an dem er mich ohne Weiteres teilhaben ließ, hat es mir letztlich ermöglicht, den Lebensabschnitt zu schildern, der – wie ich glaube – für meine Mutter insgesamt am bedeutendsten war.

    Natürlich ist ein Stück
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