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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin
Autoren: Yvonne Hirdman
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hatte bewundernswert kastanienbraune
Haare, große, blaue Augen und ein perfekt oval geschnittenes Gesicht«, lese ich in Emilies Brief an ihre Tochter.
    Aber was sollen diese Worte heißen? Zuerst denke ich, dass sie sich bis über beide Ohren verliebt hat, aber als ich meine Französischexpertin danach frage, behauptet sie, da stünde, dass sie sich in den See verliebt habe – amoureuse du lac – was so viel heißt wie »hat ihr Herz an den See verloren«.
    »Meinst du wirklich?«, hake ich skeptisch nach. Aber sie beharrt darauf: Sie meint den See. Seltsame Frau, meine Uroma. Sie kam also aus den Bergen und verlor ihr Herz an einen See. Und um diesen See jeden Tag sehen zu können, lässt sie sich von einem attraktiven und geschickten jungen Mann den Kopf verdrehen und die beiden heiraten. Der See wird zu ihrem Halt im Leben und schenkt ihr Trost, als sich herausstellt, dass sich der gutaussehende junge Kerl immer häufiger sinnlos betrinkt, während sie von der Horde Kinder, die sie zur Welt bringt – alle zwei Jahre eines, die sie jeweils zwölf bis fünfzehn Monate stillt –, ganz entkräftet wird. Zehn von vierzehn Kindern überleben.
    »Ich habe nie gehört, dass sie sich beklagt hätte«, bringt Emilie für ihre Tochter zu Papier, »habe nur einen gelegentlichen Stoßseufzer vernommen, sah, wie ihre großen Augen sich weiteten und sie unverwandt auf den See hinaussah, hinter dem sich das Panorama der Alpen erstreckte. Ein Moment Schweigen – dann nahm sie die Prüfung auf sich und hob, erneut lächelnd, den Blick.«
    Ach ja, die Frauen damals, solche Optimistinnen, die sich durch nichts erschüttern ließen. Make the best of it , habe ich die Stimme meiner Mutter noch im Ohr.
    Da ist allerdings eine Erinnerung, an der Emilie uns teilhaben lässt, wodurch das positive Bild, das sie von ihrer Mutter gezeichnet hat, Risse bekommt: Sie entsinnt sich, dass sie eines Abends so gegen zehn Uhr davon wach wurde, wie ihr
Vater sternhagelvoll (nein, so drückt sie sich natürlich nicht aus, das schreibe ich) – und ohne einen Mucks von sich zu geben, denk' ich mir – mit ansieht, wie ihre Mutter ihrem Vater eine Tracht Prügel verpasst. Wenngleich vergebens. Und mir fällt auf, dass das das einzige Mal ist, dass Emilie ihren Vater erwähnt – überhaupt erwähnt.

    Emilie Redard im Alter von 21 Jahren.

    Und diese Frau, die sich in einen See verguckt hatte, war noch dazu ein mathematisches Genie, auch wenn sie nie eine ordentliche Schulbildung erhalten hatte. Als ihr Vater starb, war ihr nichts anderes übrig geblieben, als die Schule zu verlassen – Auf Nimmerwiedersehen, Studium! Auf Nimmerwiedersehen, Beruf!
    Sollte sie wirklich solche Pläne gehegt haben? Um 1860-1870, in einem kleinen Kaff in der Schweiz? Oder ist es Emilie, die sie in ihrem Brief so dramatisch von ihren – ja, ihren eigenen, innersten Wunschvorstellungen vielleicht? – Abschied nehmen lässt?
    Einen Trunkenbold als Mann, zehn Kinder, die sie durchbringen musste, eine außergewöhnliche mathematische Begabung (wenn wir ihrer Tochter Glauben schenken dürfen), ein Herz aus Gold. »Wenn wir Katholiken gewesen wären, wäre sie wegen ihrer Güte, die sie den Armen des Dorfes entgegenbrachte, heiliggesprochen worden; das hat Doktor XX mir erzählt, als ich das letzte Mal bei ihm war«, fährt Emilie
weiter fort. Und als ob das nicht schon reichen würde, so sei Mama Cécilie darüber hinaus auch noch eine über die Maßen tüchtige Geschäftsfrau gewesen, die so etwas wie einen Großhandel eröffnet habe, in dem Bedürftige Kredit bekamen. Man habe das Geschäft allseits nur »Wohltätigkeitskontor« genannt.
    Emilie hatte zwei Schwestern und sieben Brüder. Die Jungen mussten in die école secondaire gehen und wurden danach alle in die Lehre geschickt. Sie und ihre Schwestern Charlotte und Blanche hingegen durften weiterlernen. »Es war in Arbeiterfamilien schließlich so üblich, dass die Mädchen weitaus fleißiger und begabter waren«, schreibt sie, als sei das eine allseits bekannte Wahrheit. Und es war dieses Kleeblatt, das hinauszog und dem kleinen Ort den Rücken kehrte, ein »Intelligenzexport aus der Schweiz«, wie sie selbstbewusst weiterschreibt. Blanche geht nach Österreich, Charlotte nach Holland, und später England, und Emilie nach Bukarest.

    Da sitzt sie nun also im Zug, der sie aus dem kleinen Auvernier über die großen Städte der k.u.k. Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, Wien und Budapest, durch Karlsburg (heute Alba
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