Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin
Autoren: Yvonne Hirdman
Vom Netzwerk:
des Bruchs des Eheversprechens zu verklagen. Falls er angenommen hatte, dass sie sich erweichen lassen würde, so hatte er sich getäuscht. Voller Entrüstung und mit beißender Ironie lässt sie sich in ihrem Tagebuch darüber aus. Gut so, Emilie!, denke ich.

    »Ah! Ah! Ah! Er scheint sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass derartige Prozessdrohungen nur dazu führen, ihn in meinen Augen noch widerwärtiger erscheinen zu lassen. Diesen charmanten Brief und seine Antwort darauf [vermutlich der Brief, in dem er mit Klage droht] werde ich als ein Denkmal an seine sonderbare Liebe zu mir bewahren – Ah! Das also soll Liebe sein; was für ein wunderlicher Mann, hätte nicht gedacht, dass es solche Exemplare heute noch gibt. Schade für ihn, dass er nicht vor 200 Jahren gelebt hat! Damals hätte man die armen Frauenzimmer womöglich noch dazu zwingen können, ihrem Gatten zu gehorchen, der sie wie eine Ware kaufte. Mittlerweile befinden wir uns aber im 20. Jahrhundert, und nach einem Jahrhundert der Aufklärung und Elektrizität sollte man doch meinen, dass dieses Jahrhundert nicht mehr ganz so barbarisch sei.«

    Sie schreibt diese Worte – und man sieht doch förmlich vor sich, wie sie an ihrem Schreibtisch den Kopf in den Nacken wirft – im November 1904. Zum zweiten Mal lässt sie ihr Dorf und ihre Mutter zurück und reist in die Welt hinaus. Diesmal in den Norden, zum westlichsten Außenposten des großen Russischen Reiches, in die russische Ostsee-Provinz Livland (heute in Estland), die die schwedischen Truppen einst für das Schwedische Reich von Polen eroberten.
    Dorpat
    Einen Monat war sie bereits als französische Gouvernante auf dem großen Gut Ratshof bei Dorpat (heute Tartu) für die adelige Familie von Liphart tätig. Sie ist aufgestiegen – die Lipharts gehörten zum vornehmsten deutsch-baltischen Adel, nannten riesige Landgüter ihr eigen und waren im Besitz großen künstlerischen Talents. Vermutlich war Ernst Friedrich von Liphart damals der Gutsherr, als sie dort ihre Stellung antrat, und wahrscheinlich war es seine schöne Ehefrau, eine geborene Reichsgräfin von Manteuffel, der sie direkt unterstellt war. Ernst Friedrich von Liphart ist als Kunstmaler in die Geschichte eingegangen, und Emilie erzählt, wie sie ihm abends manchmal assistierte, als dieser seine Ehefrau – die Schöne – im Schein einer »Pieler-Lampe« porträtierte. Fritz, der Mann, den Emilie heiraten wird, sollte ihn später als »einen beschwerlichen Herrn; äußerst verzogen, sehr nervös, außerordentlich begabt« beschreiben. »Die Gemäldegalerie seines Gutes Ratshof war berühmt.«
    Er, von Liphart, sei ein wenig eigen gewesen, fährt Fritz in seinen Memoiren fort, er habe Sanskrit gelernt, »glänzend« Klavier gespielt und eine vornehme Sammlung histologischer Gehirnschnitte besessen. Damals ein gängiges Hobby für zeitgenössische Wissenschaftler und offenbar auch für reiche Exzentriker, die glaubten, dass die Genialität konkret im Gehirn ansässig sei und man sie sehen könne, wenn man das Gehirn nur in hauchdünne Scheiben schnitt. Das Gehirn Lenins wurde beispielsweise tatsächlich in Hirnschnitte gefasst.

    Das Äußere des auch als Schloss bezeichneten Gebäudes sei nichts Besonderes gewesen – wie Emilie fand –, aber das Innere! Zwischen den verblichenen Fotografien aus Emilies Album findet sich eine Reihe verträumter, halb verschwommener Aufnahmen aus der Gemäldegalerie des Ratshofs, dem
Billardzimmer, dem mit verschwenderischen Blumenarrangements geschmückten Musikzimmer und der Bibliothek mit ihren schönen Kopien (wie ich annehme) griechischer und römischer Statuen. Und wenn man sich so die Fassade ansieht, fällt es einem schwer, ihr Raisonnement nachzuvollziehen, denn ich muss sagen, dass es ganz bemerkenswert aussieht – groß und imposant, wirklich wie ein Schloss. Während des Zweiten Weltkrieges wurde es vollkommen zerstört. Inzwischen sind Teile des Gebäudes rekonstruiert worden und beherbergen heute Estlands Nationalmuseum.
    »Ich kam nach Russland«, berichtet Emilie Charlotte in ihren Brieferzählungen, »und wurde am Bahnhof von einer richtigen Equipage, samt Kutscher und Lakai, der mit einem stattlichem Bauch aufwarten konnte, abgeholt und zum Schloss kutschiert, das zwar von schlichtem Äußeren, innen jedoch prachtvoll möbliert und verziert war. Sogleich verspürte ich den Geist des Künstlers, der darin herrschte.« Nachdem sie sich notdürftig erfrischt hatte, wurde sie zur
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher