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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin
Autoren: Yvonne Hirdman
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habe mich verlobt; jetzt fängt ein neues Leben an«. Davor finden sich nur knappe, atemlose Andeutungen, dass etwas passiert ist, das ihr ganzes Leben verändern wird. So am 23. April: » Hélas! Toujours un homme, hélas! «, ungefähr: »Endlich! Ein Mann für immer! Endlich!«, oder am 18. Juni: »Ich träume, ich träume vom Glück.« Ihre vielsagendsten Zeilen sind jedoch ein von ihr abgeschriebenes Gedicht der deutschen Lyrikerin Anna Ritter:
    »Ich hab' an seiner Brust geruht
    In seinen Armen schlief ich ein
    Und kreuzt er nimmer meinen Weg –
    Er war doch eine Stunde mein!
    Und wenn ich dieser Stunde Glück
    Mit meinem Leben zahlen müßt',
    Ich ginge lächelnd in den Tod –
    Er hat mich einmal doch geküßt!«

    Als Emilie ihrer ältesten Tochter von dieser Begegnung erzählt, beschreibt sie diese aufregende Zeit folgendermaßen:

    »Eines Tages nahm Herr de Liphart mich zu einer Buchhandlung in die Stadt mit, um die Bücher umzutauschen, die man für ihn ausgesucht hatte. Es handelte sich um eine nette, kleine Buchhandlung, in der ein junger, blonder Buchhändler mit großen blauen Augen beriet, der sogleich damit begann, mir Aufwartungen zu machen, weil ich mit ihm gescherzt und ihn aus vollem Herzen ausgelacht hatte. Er hatte so etwas Kindlich-Bübisches an sich, sprach aber ein ausgezeichnetes Deutsch; eine Sprache, die ich unbedingt lernen wollte. Also ging ich so oft wie möglich dorthin, um Blech zu reden und Bücher umzutauschen, und so kam es, dass Dein Vater mit viel Geduld sein Ziel erreichte.«

    Wenn man mehr über die Ereignisse aus dem Frühjahr und Sommer 1905 erfahren möchte, muss man sich an Fritz halten: Emilies Mann, den Vater meiner Mutter, meinen Großvater – den Deutschen, den Buchhändler.
    Zwischenakt – Lenis Geschichte
    Im Juni 1983 fuhren wir nach Leipzig, meine Schwester und ich. Beide waren wir nicht ganz bei Trost: Eili erwartete ihr viertes Kind und mir war an der Nasenspitze anzusehen, wie einsam und ungeliebt ich mich fühlte. Aber wir hatten diese Reise schon lange machen wollen. Nicht um Tante Lenis willen – unseretwegen. Um mehr über unsere Mutter zu erfahren, ihr näherzukommen.
    Meine Mutter war damals schon lange tot, wenngleich immer präsent, wie ein stiller Begleiter. In meinen Träumen lebte sie ihr Leben noch einmal von vorn; in ihnen lebte der Kummer immer wieder auf. Einen Monat vor unserer Abreise notierte ich folgenden Traum:

    Wir unterhalten uns über Sex – Mama steht hinter uns – murmelt irgendwas Vertrautes – ich drehe mich um – darüber dürfen Mütter nicht reden, sage ich – sie zieht ihre Kleidung aus – greift mit beiden Händen in ihren Bauch – ihr Körper sieht so seltsam aus – wie ein verschrumpelter Teigklumpen? Wie geriffeltes Toastbrot? Eklig kann man ihn nicht nennen, aber eigenartig.
    Dann – wir sind jetzt in einem anderen Zimmer – ich stehe dicht neben ihr, sage ganz kindisch, dass ich nicht weiß, was ich machen soll, wenn sie stirbt, dass ich ohne sie nicht weiterleben kann, und da sagt sie ganz liebevoll zu mir, dass ich doch schon erwachsen sei, dass ich doch schon 40 sei und das doch hinkriegen müsse, und ich erwidere, dass ich niemals erwachsen sein werde. Weinend werde ich wach, fühle mich von aller Welt verlassen, weine hemmungslos und berühre meinen Bauch, entsetzt darüber, zu altern; jede Schutzmauer, die ich mir gegen ein Leben ohne Liebe und die Einsamkeit des Alters zugelegt habe, ist gänzlich verschwunden, vollkommen verschwunden, und ich weine so, wie ich es schon seit Ewigkeiten nicht mehr getan habe.

    In diesem Zustand fuhren wir los. Mit dem Zug, natürlich, und der Fähre von Trelleborg nach Saßnitz, auf der Eili die ganze Nacht starr vor Schreck Wache hielt, nur damit ich – die an Klaustrophobie litt – es wagte, die zahlreichen Treppen hinunterzusteigen und mich tief unten im Schiffsrumpf zum Schlafen in den Zugwaggon zu legen.
    Am nächsten Morgen ging es weiter nach Westberlin, wo wir in den Zug nach Ostberlin umsteigen mussten, um von dort weiter nach Leipzig, zu Leni, zu fahren. Ich erinnere mich noch an die Sonne, den verlassenen Bahnhof, an das verdörrte Gras. Stunden über Stunden warteten wir. Mir war, als hätten wir den ganzen Tag lang gewartet.
    Der Leipziger Bahnhof war riesig und in klassischer Bauweise mit einer gewölbten Bedachung aus Stahl und Glas er
richtet, die sich über die unzähligen Gleise spannte, ganz wie in Kopenhagen oder Frankfurt. Und doch war er nicht
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