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Mein wundervolles Genom

Mein wundervolles Genom

Titel: Mein wundervolles Genom
Autoren: Lone Frank
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Fälle. Wo verbergen sich die restlichen Faktoren?
    »Seltene Varianten«, murmelt Watson, als lege er ein Geständnis ab. »Ich denke, sie sind in seltenen Varianten zu finden, genetischen Veränderungen, die nicht von den Eltern ererbt werden, sondern spontan als Mutationen bei den erkrankten Personen auftauchen. Hören Sie: Sie haben zwei gesunde Eltern, und auf einmal ist da ein schwer gestörtes Kind. Soweit ich es überblicke, kann es nicht sein, dass das Kind eine unglückliche Kombination von ansonsten guten Genen ererbt hat. Etwas Neues muss passiert sein. Wir müssen herausfinden, was dieses Neue ist, und ich vermute stark, dass wir erst das gesamte Genom von möglicherweise zehntausend Menschen sequenzieren müssen, bis wir ein besseres Verständnis der genetischen Aspekte bei häufigen psychiatrischen Erkrankungen bekommen.«
    Ich frage, wie es ist, wenn das eigene Genom für alle sichtbar im Internet ausgebreitet wird, aber Watson ignoriert meinen Einwurf. Er ist ganz in seinen Gedankengang versunken.
    »Denken Sie nur an Bill Gates. Der Mann hat vollkommen normale Eltern, aber er selbst ist doch ziemlich komisch, nicht wahr?«
    Glücklicherweise redet Watson weiter, bevor ich antworten muss.
    »Keine Frage, Bill ist merkwürdig«, fährt er fort. »Vielleicht nicht wirklich autistisch, aber zumindest eigenartig. Mein Punkt dabei ist, dass wir im Voraus nicht wissen, was für Menschen die Gesellschaft braucht. Wer etwas beitragen kann. Wie es heute aussieht, sind diese halbautistischen Leute, die mit Computern umgehen können, richtig nützlich. Ich überblicke nicht alle Fakten, aber ich könnte mir vorstellen, dass wir Menschen in hundert Jahren infolge all der Umweltveränderungen und solcher Sachen eine sehr viel höhere Mutationsrate haben werden, als wir bisher hatten. Und mit mehr genetischen Mutationen wird es eine größere Variationsbreite geben und damit die Chance, dass mehr außergewöhnliche Individuen vorkommen.«
    Er wirft mir einen raschen Blick von der Seite zu. »Es gibt wenig wirklich außergewöhnliche Individuen, die weitaus meisten Menschen sind Vollidioten.«
    Es tritt eine kleine Pause ein.
    »Aber Erfolg im Leben hängt von guten Genen ab, und die Verlierer, nun, haben alle schlechte Gene.« Watson unterbricht sich. »Nein, ich habe schon genug Schwierigkeiten. Ich sage lieber nichts mehr.«
    Sein selbstverordnetes Schweigen dauert fünf lange Sekunden.
    »Ich meine, es wäre gut, wenn wir mehr Verständnis für die Tatsache bekämen, dass die Gesellschaft rücksichtsvoll mit den Verlierern umgehen muss. Aber an dem Punkt laufen die Dinge in die falsche Richtung – wir wollen nicht zugeben, dass manche Leute schlicht und einfach dumm sind. Dass es tatsächlich eine unglaublich große Zahl von Dummköpfen gibt.«
    Mir fällt ein berühmter Ausspruch von Watson ein, der Anteil von Idioten unter den Nobelpreisträgern entspreche ihrem Anteil in der normalen Bevölkerung. Natürlich sage ich nichts. Es wäre grob und unverschämt, und obwohl ich dazu neige, brutal ehrlich zu sein, will ich es mit dem alten Mann nicht übertreiben. Stattdessen frage ich, wie es sich anfühlt, auf beinahe unglaubliche Fortschritte zurückzublicken, die er vor fast sechzig Jahren mit angestoßen hat.
    »Ich habe nie daran gedacht, mein eigenes Genom sequenzieren zu lassen – das komplette Genom von Anfang bis Ende. Nie. Als ich am Humangenomprojekt mitgewirkt habe, bei dem wir über mehrere Jahre daran arbeiteten, das menschliche Genom als Ressource für alle zu entschlüsseln, erschien die Sequenzierung eines individuellen Genoms noch vollkommen utopisch. Und als der junge Jonathan Rothberg von 454 Life Sciences, der Sequenzierungsfirma, 2006 auf einmal anbot, mein Genom zu sequenzieren, klang das immer noch verrückt. Aber sie haben es tatsächlich gemacht.«
    Der träumerische Blick verschwindet.
    »Heute geht es darum, dass jedes Genom ins Internet gestellt wird, denn wenn Sie etwas über Ihr Genom erfahren wollen, müssen es sich viele Augen anschauen. Dahin sollte das Geld fließen: dass immer mehr Genome veröffentlicht werden, damit die Wissenschaftler sie analysieren und aus den Informationen immer mehr Erkenntnisse gewinnen können. Wissen Sie was? Man sollte mehr alte Leute sequenzieren, denn aus offensichtlichen Gründen sind wir eher bereit, unsere Genome öffentlich im Internet zu präsentieren, als junge Leute.«
    Wieder sehe ich eine Chance, Watson nach seinem eigenen Genom zu fragen.
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