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Mein wundervolles Genom

Mein wundervolles Genom

Titel: Mein wundervolles Genom
Autoren: Lone Frank
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Ich lese »leichte Paranoia«.
    »War außer Ihrem Vater noch jemand in psychiatrischer Behandlung?«
    »Wir alle.«
    »Medikamente oder Gespräche mit einem Psychiater?«
    »Beides«, sage ich, und dann fällt mir noch etwas ein. »Was ist mit Selbstmordversuchen? Zählen die auch?«
    Die junge Ärztin nickt wortlos und sucht in dem Fragebogen das Feld für Selbstmordversuche.
    »Okay, es waren zwei – jedenfalls weiß ich von zweien. Beide Male war es mein Vater. Meine Mutter hat nur davon gesprochen, aber sie hat es nie versucht.«
    Die blonde Ärztin hält den Blick fest auf ihre Papiere geheftet, als sie die letzten Fragen stellt, bei denen es um Betäubungsmittelmissbrauch geht. Hier kann ich reinen Gewissens antworten, dass niemand in meiner Familie je Probleme mit Drogen hatte. Niemals.
    »Sie selbst haben nie irgendwelche Betäubungsmittel genommen?«
    »Zu Beginn der 1990er Jahre habe ich mal selbstgebrauten Schnaps aus Hanf getrunken, das ist alles. Und er hat nicht gewirkt.« Oder vielmehr wirkte er so gut, dass ich die Party komplett verschlief.
    »Nach Ihrem Alkoholkonsum«, sagt sie, »muss ich Sie auch noch fragen. Wie viele Drinks trinken Sie im Lauf einer Woche?«
    »Das müssen etwa vierzehn sein«, lüge ich schnell und geschickt. Über zwanzig klingt einfach nicht gut, und ich habe immer der Vorsatz, bei vierzehn zu bleiben. »Also, zwei Gläser Rotwein am Tag, aus rein medizinischen Gründen. Weil Rotwein Resveratrol enthält, das für vieles gut ist: für das Herz, den Blutdruck, die kognitiven Fähigkeiten.«
    Sie nickt enthusiastisch. »Vierzehn Drinks liegen im Rahmen der Empfehlungen der Nationalen Gesundheitsbehörde. Gut, gut«, sagt sie schließlich und lächelt beinahe befreit. »Ich glaube, ich habe keine weiteren Fragen.«
    Aber ich. Ich habe Fragen. Sie schwelten in meinem Kopf, während wir den Fragebogen durchgingen. Und sie waren wahrscheinlich der wahre Grund, warum ich mich für diese Genstudie gemeldet habe.
    Wenn ich ehrlich sein soll, besteht ein direkter Zusammenhang zwischen meiner Befragung hier in diesem kargen Büro und dem kleinen Zimmer in einem Krankenhaus am anderen Ende des Landes, in dem ich die Hand meines Vaters hielt, als er an einem Sommertag vor einem Jahr starb. Geht es beim Interesse an genetischer Information nicht immer darum? Um das eigene Erbe, die eigene Geschichte und die eigene Identität?
    Damals saß ich in dem stickigen Krankenzimmer an der Seite des Menschen, den ich mehr liebte als jeden anderen auf der Welt, und ich konnte nichts weiter tun, als auf das Ende zu warten. Und als es dann passierte und mein Vater von einem Augenblick auf den anderen nicht mehr da war, tauchte ganz hinten in meinem Kopf ein einziger Satz auf: Ich bin eine Waise.
    Die Erkenntnis hinterließ ein eisiges Gefühl: nicht nur, auf einmal allein zu sein, sondern ohne Quelle dazustehen, ohne Geschichte. Jetzt war niemand mehr da, der mein ganzes Leben miterlebt hatte bis zurück in eine Zeit, an die ich mich selbst nicht mehr erinnern kann. Niemand sah mehr die Verbindungen zwischen dem Kleinkind, das ich gewesen war, und der Frau, die ich heute bin. In gewisser Weise war die Vergangenheit dahin. Und die Zukunft – nun, die war absehbar. Mit dreiundvierzig Jahren hatte ich das Alter erreicht, in dem die Chance, noch Kinder zu bekommen, eher theoretisch ist. Für mich ist das in Ordnung, weil ich nie ernsthaft an Kinder gedacht habe, aber ohne Quelle und ohne Nachkommen hängt man ziemlich in der Luft in der Unendlichkeit der Menschheit, des Lebens. Wenn man sich nicht in einem anderen Menschen wiedererkennt, kann man sich leicht selbst aus dem Blick verlieren.
    Woher komme ich? Wer bin ich? Werde ich so sein wie meine Eltern? Wie werde ich sterben? Und wann?
    Diese Fragen haben Menschen immer gestellt, aber heute kann man sie sehr präzise stellen und an eine wunderbar greifbare Instanz richten: die eigene DNA. Und ich kann nicht anders, als diese Fragen nach meiner Biologie zu stellen: Denn ich bin Biologin. Der Mensch als Organismus fasziniert mich. Der Mensch als wundersames Ergebnis von Myriaden von Abläufen, die sich im mikroskopischen Bereich vollziehen.
    Mir fällt ein, was mein Vater im Lauf der Jahre unzählige Male zu mir gesagt hat, wenn er in sentimentaler Stimmung war oder ich aus dem einen oder anderen Grund Aufmunterung brauchte. »Meine liebe Tochter.« Immer hat er das Wort liebe betont. »Du besitzt eine unglaublichgünstige Kombination von Genen. Du
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