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Mein wundervolles Genom

Mein wundervolles Genom

Titel: Mein wundervolles Genom
Autoren: Lone Frank
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nervös. »Ein Interview?«
    Er fixiert mich mit einem Blick durch Brillengläser, die seine Augen wie zwei Golfbälle aussehen lassen. Was er sieht, gefällt ihm anscheinend nicht.
    »Ich habe keine Zeit«, murmelt er und dreht sich weg. »Ich muss zum Essen heimgehen. Ich habe Gäste, mit denen ich sprechen muss. Wichtige Gäste.«
    Ungeduldig schaut er sich um, als hoffe er, jemand würde kommen und ihn retten.
    »Nur zehn Minuten«, bitte ich. Diesmal bekomme ich einen tiefen Seufzer und ein keuchendes Geräusch als Antwort. Wie er da vor mir steht, merkwürdig unschlüssig, gewinnt Dreistigkeit bei mir die Oberhand, und ich erwähne fast aufs Geratewohl einen Vortrag vom Tag zuvor über Gene und Schizophrenie. Das weckt sein Interesse. Er zieht mich nach drinnen, ins leere Grace Auditorium, wo die Tagung über individuelle Genome stattfindet, und setzt sich in eine der vorderen Reihen.
    »Mein Sohn leidet an Schizophrenie«, sagt er. Ich nicke mitfühlend – ich habe die tragische Geschichte seines jüngsten Sohnes Rufus gehört. Sofort beginnt Watson zu nuscheln, er murmelt und schnieft, aber seine Augen sind klar, keine Spur von der Verwirrung, die oft mit dem Alter einhergeht.
    »Im Hinblick auf die Genetik ist es für mich immer noch eine große Motivation zu erleben, dass diese Krankheit verstanden wird. Wenn Sie mich fragen, was ich mir von der genetischen Revolution wünsche, dann ist es das: Ich möchte, dass psychiatrische Krankheiten verstanden und erklärt werden. Wir haben keine Ahnung, was dabei passiert. Stellen Sie sich vor: Bei jeder einzelnen Synapse, über die Nervenzellen Impulse übertragen, sind tausend Proteine im Spiel. Und es gibt Milliarden von Synapsen.«
    Watson kommt langsam in Fahrt und steckt mich an. Mein größtes Interesse, beeile ich mich ihm zu sagen, sei die Verhaltensgenetik: zu verstehen, wie genetische Faktoren daran mitwirken, unsere Psycheund unsere Persönlichkeit zu formen, unsere geistigen Fähigkeiten und unser Verhalten insgesamt. Man weiß, dass erbliche Faktoren nicht nur unser Temperament und unsere Stimmung beeinflussen, sondern auch so komplexe Dinge wie Religiosität und politische Einstellungen.
    Doch wie kann eine kleine Variation in den Proteinen, die in unseren Gehirnzellen herumschwimmen, dazu führen, dass wir rechten oder linken politischen Positionen zuneigen? Am einen Ende stehen eine paar Stränge genetischer Information, am anderen Ende steht eine denkende, handelnde Person, und dazwischen befindet sich eine Blackbox. Eine Box, in die die Forscher gerade erste neugierige Blicke werfen.
    Seine golfballgroßen Augen fixieren mich. »Geistige Fähigkeiten?« Seine Stimme klingt dünn, aber scharf. »Ja, das ist interessant, natürlich, akademisch interessant, aber Sie müssen begreifen, dass die Krankheit immer gewinnt, wenn Forschungsgelder verteilt werden. Und so muss es sein – schließlich geht es um leidende Menschen!«
    Er keucht wieder. Ich weiß nicht, ob er seine Kehle befreien will oder seine Gedanken.
    »Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass eine Chance besteht, in den nächsten zehn Jahren die Rätsel der Schizophrenie zu lösen. Zehn Jahre werden nicht reichen.«
    Viele dürften Watsons Einschätzung zustimmen. 2009 berichtete ein kleines Heer von Forschern über die Ergebnisse von drei gigantischen Studien an fünfzigtausend Patienten aus vielen verschiedenen Ländern zu den genetischen Ursachen von Schizophrenie: Sie hatten sehr wenig gefunden. In der New York Times sprach Nicholas Wade unverblümt von »einer Enttäuschung ... einer historischen Niederlage, einem Pearl Harbor der Schizophrenie-Forschung«. 3 Das einzige eindeutige Resultat: Man hatte keine Gene gefunden, die direkt dafür verantwortlich sind, ob jemand Schizophrenie entwickelt oder nicht. Überdies sieht es so aus, als wären nicht einmal bei allen Patienten die gleichen Gene beteiligt.
    Thema der Tagung in Cold Spring Harbor ist das große Geheimnis der Genetik: die fehlende Erblichkeit. Das ist gewissermaßen die »dunkle Materie« des Genoms. Nehmen wir als Beispiel wieder die Schizophrenie. Aus zahllosen Studien an Zwillingen und Familien, die in Jahrzehnten durchgeführt wurden, wissen die Forscher, dass Schizophrenie zu bis zu 80 Prozent erblich ist. Doch trotz gründlichster Untersuchungen an Zehntausenden von Patienten konnte man erst eine Handvoll genetischer Faktoren aufspüren. Und all diese Faktoren zusammen erklären nur ein paar mickrige Prozent der
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