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Mein wundervolles Genom

Mein wundervolles Genom

Titel: Mein wundervolles Genom
Autoren: Lone Frank
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Ich möchte wissen, wie es sich anfühlt, wenn man sich in sein eigenes genetisches Material versenkt und es untersucht. Wenn man den Weg schon gegangen ist, den ich noch vor mir habe.
    »Hat es etwas für Sie geändert, dass Sie Ihr eigenes Genom kannten?«
    »Nein, ich glaube nicht. Um ehrlich zu sein, ich denke nicht viel darüber nach.«
    »Wie steht es mit dem Gen für ApoE4?«, frage ich vorsichtig. Von Anfang an hatte Watson betont, er wolle nicht wissen, ob er Träger dieser häufigen Variante des Gens für das Apolipoprotein E sei, die das Risiko erhöht, an Alzheimer zu erkranken.
    »Nein, denn dann würde ich jedes Mal, wenn mir ein Name nicht einfällt, denken, dass es eine beginnende Demenz ist. Ha! So, wie es ist, mache ich mir nur halb so viele Sorgen deswegen.«
    Da sein Genom im Internet zugänglich ist, frage ich mich, ob er die Wahrheit wirklich nicht weiß oder ob seine angebliche Unwissenheit nur Koketterie ist. Laut sage ich, in Anbetracht seines Alters – dreiundachtzig – gebe es keinen Grund, es weiterhin nicht wissen zu wollen: Wenn er bisher nicht an Demenz leide, werde er wahrscheinlich auch nicht mehr daran erkranken.
    »Sie haben das nicht verstanden«, sagt er leicht gekränkt. »Auch mit über neunzig können Sie noch dement werden, meiner Großmutter erging es so. Sie war Jahrgang 1861 und starb, als ich sechsundzwanzig war. Übrigens eine wunderbare Frau. Ich muss Ihnen sagen ...« Er drehtsich zu mir und blickt mich direkt an. »Ich kenne viele Menschen über achtzig, die noch einen messerscharfen Verstand haben, aber ich kenne nicht viele Vorbilder über neunzig. Zwischen achtzig und neunzig passiert mit den meisten Menschen etwas.«
    Einen Augenblick lang glaube ich, er habe so etwas wie Humor erkennen lassen, aber bevor ich lache, registriere ich den Ausdruck in seinen Augen. Er meint es todernst.
    »Und da ist noch etwas. Ich dachte, als weißer Mann europäischer Herkunft würde ich Milch vertragen, ich habe immer Milch getrunken. Und ich habe Eiscreme gegessen, viel Eiscreme. Aber aus meinem Genom geht hervor, dass ich eine teilweise Laktoseintoleranz habe. Heute trinke ich nur noch Sojamilch, und ich muss zugeben, dass ich tatsächlich weniger Magen-Darm-Probleme habe.« Das war vielleicht etwas mehr Information, als ich haben wollte. »Jeder sollte von Geburt an über dieses Wissen verfügen, dann könnten die Mütter dafür sorgen, dass ihre Kinder die beste Ernährung bekommen.«
    Er wendet sich einem weiteren Beispiel zu: Herzprobleme und Bluthochdruck. »Ich habe außerdem ein Gen mit reduzierter Aktivität, das bewirkt, dass ich Betablocker schlecht abbaue. Ich nehme schon länger Medikamente, weil ich einen hohen Blutdruck habe. Mit diesem genetischen Wissen hat es mich nicht mehr gewundert, dass ich nach Einnahme der Tabletten jedes Mal beinahe einschlafe. Jeder zehnte Kaukasier hat eine Genvariante, durch die Betablocker bei ihm nicht wirken. Auf so etwas sollte doch jeder untersucht werden, nicht wahr?«
    Auf einmal wechselt Watson die Richtung.
    »Wir sind an einem Punkt angekommen, wo wir uns fragen müssen, wie viel wir vernünftigerweise privaten Unternehmen überlassen dürfen. Ich bin verdammt noch mal Wissenschaftler, und es wäre mir lieber, wenn die Genome meiner Freunde in einem Universitätslabor untersucht würden wie dem Broad Institute in Boston oder dem britischen Sanger Centre, als von einer privaten Firma. Diese Unternehmen kommen und gehen und haben kein echtes wissenschaftliches Interesse«, sagt er und wirft einen flüchtigen Blick in Richtung eines überlebensgroßen Porträts von ihm, die einzige Dekoration in dem Hörsaal. Der Künstler war wohl ein Bewunderer des britischen Malers Lucian Freud und hat sein Modell mit jeder Hautfalte und jedem Leberfleck dargestellt.
    Der lebendige Watson sackt ein wenig auf seinem Stuhl zusammen. Er wirkt unendlich müde, eher wie eine alte Schildkröte als wie ein alter Mann. Er schüttelt den Kopf.
    »Ich weiß nicht, wohin das alles führen wird. Womöglich kommen wir so weit, dass nicht nur jeder sein Genom sequenzieren lassen kann, sondern dass Google es macht.«
    Er lässt die Arme sinken und hängt offenbar seinen Gedanken nach.
    »Reisen Sie jetzt nach Dänemark zurück?«, fragt er aus heiterem Himmel, und zum ersten Mal klingt er wirklich freundlich. Ich bejahe.
    »Armes Mädchen. Dänemark ist das traurigste Land, in dem ich je gewesen bin. Bevor ich an die Universität Cambridge ging, war ich
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