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Mein Wahlkampf (German Edition)

Mein Wahlkampf (German Edition)

Titel: Mein Wahlkampf (German Edition)
Autoren: Oliver Maria Schmitt
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begegnet, er war als frischgebackener Ministerpräsident eigens aus Saarbrücken angereist, um eine Manfred-Deix-Ausstellung zu eröffnen, was er mit Verve und Begeisterung in freier Rede tat. Hinterher tafelte man in einer einfachen Weinwirtschaft, wo ich ihm die Hand schüttelte und seinen besonders kräftigen Politikergriff zu spüren bekam. Für mich ist Lafontaine seitdem ein prägendes Vorbild, als Frauenschwarm wie als Redner und Politiker, außerdem hat er einen beeindruckenden Karriereweg bestritten: Er war Oberbürgermeister von Saarbrücken, stieg auf zum Ministerpräsidenten des Saarlands und schließlich zum Kanzlerkandidaten der SPD. Er ist also nicht in der Kommunalpolitik geblieben. Bundespolitik ist einfach reizvoller: Die Verdienstmöglichkeiten sind fraglos besser, außerdem kommt man mehr rum, darf auch mal im Ausland oder bei reichen Freunden auf Mallorca übernachten. Zudem hat man einen größeren Stab, an den man die Arbeit besser delegieren kann. Das ist einfach die interessantere Option für mich. Denn eigentlich, das wurde mir früh klar, bin ich zu Höherem berufen.

    Der einzige Tag, der noch vollständig in meinem Bewusstsein existiert, ist der Wahltag. Alles andere verlor an Struktur und Bedeutung. Ich telefonierte, redete, schüttelte Hände und googelte mich sicherheitshalber noch mal schnell selbst – vielleicht war mir ja was Interessantes über mich entgangen? Ich musste Teammitglieder loben oder vor anderen bloßstellen, Journalisten belügen, potenziellen Spendern in den Enddarm kriechen, und dabei stets lächeln, kompetent und zukunftsfähig wirken. Der Lohn wurde am Wahlsonntag ab achtzehn Uhr ausgeschüttet, die Währung hieß «Prozente».
    Der Wahlkampf ist ein aufregender, aber auch zermürbender Liebesakt mit dem Volk. Auf ein endloses Werben, Bezirzen und Umgarnen folgt ein relativ kurzer, in seinem nüchternen, mathematischen Resultat oft genug enttäuschender Höhepunkt. Jedenfalls ist in Relation zu dem ziemlich langen Vorspiel von rund drei Monaten der Orgasmus ziemlich kurz: Er reicht von der ersten Prognose um sechs bis maximal 18.20 Uhr, dann steht meist schon alles fest. In ungünstigen Fällen kommt es zu Pattsituationen, zur sogenannten «Zitterpartie», die man aber niemandem wirklich wünschen möchte.
    Ich hatte in Frankfurt im Prinzip mit allem gerechnet, zwischen einhundert Prozent und dem erklärten, weil realistischeren Wahlziel «fünfzig Prozent plus Mehrwertsteuer» war eigentlich alles drin. Um 18.19 Uhr stand dann allerdings fest: Oliver Maria Schmitt, der Spitzenkandidat der PARTEI, hatte kümmerliche 1,8 Prozent errungen.
    Anstatt mich für das schwache Ergebnis zu schämen, deutete ich es sofort zum Triumph um. Nur so konnte ich mich vor einer nachhaltigen Traumatisierung schützen, und mein Ego wurde nicht durch lächerliche Zahlenspielereien beschädigt. Immerhin hatte ich meine bisherigen Wahlergebnisse von 0,2 Prozent (1988) und 0,2 Prozent (1991) um sagenhafte achthundert Prozent steigern können! Wenn das so weiterging, brauchte ich rechnerisch weniger als zwei Wahlen, um endlich die absolute Mehrheit zu erlangen. Noch dazu waren diese fetten 1,8 Prozent das beste Resultat, das die PARTEI je in einer Großstadt erreicht hatte.
    Um keine eigene, kostspielige Wahlparty mit Freigetränken für Schnorrer, Schmarotzer und Abgreifer ausrichten zu müssen, feierten wir unser triumphales Ergebnis bei den Wahlpartys der anderen Parteien. Erst bei der SPD, die die Wahl gewonnen hatte. Die älteste Partei Deutschlands feierte in einem Lokal, in dem es keinerlei Freigetränke und ab dreiundzwanzig Uhr gar nichts mehr zu trinken gab. So zelebrierten also siegreiche Sozialdemokraten, wenn sie nach siebzehn Jahren wieder eine Großstadt regieren durften. Ich erinnerte mich an die Bundestagswahl 1998, als die SPD unter Gerhard Schröder nach sechzehn Kohl-Jahren den Wahlsieg davontrug. Damals gingen wir in die Frankfurter SPD-Zentrale, um zu sehen, wie die Genossen das Sensationsergebnis begossen. Der Anblick war erschütternd: Wie begossene Pudel saßen und hingen die Sozis auf ihren Stühlchen, es stank nach Erbswurst und Erbrochenem, die Stimmung war eigenartig ratlos bis gedrückt – es schien, als könnten die Gewinner ihren Sieg weder fassen noch begreifen. Von Party keine Spur.
    Schnellstmöglich verließen wir Deutschlands feierunfähigste Partei. In den Katakomben des Rathauses, beim Wahlverlierer CDU, da floss das Freibier in Strömen. Wir
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