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Mein Tutor

Mein Tutor

Titel: Mein Tutor
Autoren: Lindsay Gordon
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warf mein Essay beiseite, sodass die handgeschriebenen Seiten auf das Kamingitter flogen. »Das war keine wiedergekäute simple Frage in Hinblick auf Ophelias Wahnsinn.«
    Heiße, dumme Tränen füllten meine Augen. »Ich habe die ganze Nacht geweint. Tut mir leid.«
    »Ist ja großartig. In einer Woche sind die Prüfungen, und Sie stellen sich an wie ein Schulmädchen. Und das ist keinesfalls als Lob gemeint.«
    Schweigen breitete sich aus. Ich glaube, er hatte einen Witz machen wollen, aber ich war viel zu nervös, um ihn zu begreifen. Damals kannte ich ihn noch nicht so gut. Ich versuchte, mein Buch mit zitternden Händen zu öffnen, während mein Gesicht vor Scham brannte. Baron hatte seine Studenten schon früher beschimpft, und jeder hasste ihn dafür, aber mir war das bisher noch nie passiert. Möglicherweise lag das daran, dass wir meist zu zweit die Tutorstunde aufsuchten, aber als die Prüfungen näher kamen, sollten wir allein zu ihm kommen. Oh ja. Er hat mich allein rangenommen …
    Ich sah auf seine Schuhe. Auf Hochglanz polierte braune Treter, mit denen er ungeduldig auf den Boden tippte. Vor meinem inneren Auge sah ich, wie seine brutalen Finger die Schnürsenkel jeden Morgen zubanden. Oder vielleicht – in früheren Zeiten – zu einem Stock griffen und ihn auf den nackten Hintern eines Schülers hinabsausen ließen. Mein Magen zog sich noch weiter zusammen. Mir war nicht klar, ob das an einer Art hektischen, Ophelia-artigen Aufregung lag oder weil ich mich unglaublich dumm fühlte. John Baron war ein weltbekannter Experte viktorianischer Poesie, insbesondere für Robert Browning. Und ich? Ich fragte mich, was zum Teufel ich da eigentlich tat. Manchmal kam es mir fast so vor, als wären sämtliche Werke der englischen Literatur in Suaheli geschrieben worden.
    »Irgendein postgraduierter Rugbyspieler hat Sie abserviert?«
    Mir stockte vor Überraschung der Atem. Wo blieben die anschuldigenden Fragen, die unmöglich realisierbare Quellenliste nebst Nachforschungen und Revision, die nächste Woche fertiggestellt sein musste?
    »Wie kommen Sie auf die Idee, dass es ein Rugbyspieler war?«
    Die Schuhe hielten jetzt still. Ich erstarrte, als Baron über den erstaunlich luxuriösen Perserteppich ging und sich dann auf die am weitesten von mir entfernte Sofaarmlehne setzte. Mein Kugelschreiber war zerbrochen und spritzte blaue Tinte auf meinen Jeansrock, und ich versuchte, das Schlimmste mit einem fleckigen Taschentuch zu beseitigen.
    »Weil Sie wie all ihre Groupies sind: blond, prall und begierig.« Baron legte ein Bein über das andere, nahm einen Zug und stieß den Rauch geräuschvoll wieder aus. »Guy ist ein Idiot.«
    »Woher wissen Sie, dass es Guy ist?« Ich sah ihn an und wurde vor Wut sogar noch roter im Gesicht. »Wieso müssen Sie eigentlich immer alles wissen?«
    Er hatte seine mit Tweed bedeckten Arme verschränkt, während die Zigarre zwischen seinen Fingern qualmte, und starrte mich an. Er starrte seine Studenten niemals an. Er sah immer nur ihre Arbeit, seine Bücher, den Kaminsims und schließlich die Tür an. Rückblickend wird mir klar, dass er ein typischer Akademiker war. Aber damals hielten wir ihn einfach für einen schroffen, furchteinflößenden Mann mittleren Alters. Als ich also das erste Mal seine Augen unter seinem relativ langen goldbraunen Haar sah, blieb mir die Spucke weg. Sie wirkten wie die Augen eines Löwen, haselnussbraun mit goldenen Flecken.
    »Dann habe ich also recht?« Er ließ die Asche auf eine Untertasse fallen und lächelte tatsächlich. »Ein wunderschönes Mädchen wie Sie. Er ist auf jeden Fall ein verdammter Idiot.«
    Daraufhin mussten wir beide schallend lachen, aber ich war derart erschöpft, erregt und gleichzeitig geschwächt durch die Wärme in Barons Stimme, dass ich erneut in Tränen ausbrach.
    »Bella, die Zeit ist beinahe um.« Er sprang auf und ging über den Teppich, während er auf das Fenster deutete. »Die Bar macht zum Mittagessen auf. Die Pasteten sind immer sehr lecker.«
    Ich schüttelte den Kopf und musste noch heftiger weinen. Da ich den Punkt, an dem mir das peinlich war, längst überschritten hatte, fühlte sich das Weinen großartig an. Es war eine Erleichterung. Weinen in Barons Arbeitszimmer, wo mich niemand sonst sehen konnte, Tränen und Schnodder auf meinen kurzen Rock vergießend, nutzte ich meine Hysterie als gute Entschuldigung dafür, das verdammte Tutorium und mein nutzloses Essay zu vergessen.
    »Sie haben keinen Hunger?«
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