Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling
Autoren: Nino Haratischwili
Vom Netzwerk:
hätten sein können.
    Sie überließ uns unserem immer schlimmer herumvögelnden und trinkenden Vater, der sich des Sohnes seiner toten Geliebten annahm. Mein Vater, der diesmal aus Schuldgefühlen anfing, alles abzuschleppen, was weiblich war und zwei Beine hatte, der seinen Job verlor und nun auf Kosten seiner Kinder lebte, die die Mutter dank Pharmaindustrie und James unterhielt. Vater war völlig überfordert, und das war der Moment, in dem Tulja in unser Leben trat.
    Tulja war die Tante meines Vaters, eine mehrfach geschiedene, kinderlose Dame, damals noch mittleren Alters, sie hatte als Haus eine umgebaute Scheune, fuhr einen alten Truck und besaß keine Katzen, obwohl man das bei ihr erwartet hätte. Sie liebte Gedichte und alle Dichter, die tot waren, hörte italienische Opernarien und lebte von einem alten Bootsverleih, den ihr ihr zweiter oder dritter Mann hinterlassen hatte. Merkwürdigerweise sprach sie kaum über ihre Ehemänner. Denn ihr Leben bestand aus einer Vielzahl von Geschichten, von erfundenen und von wahren Geschichten, an die sie selbst irgendwann so fest glaubte, dass sie zu einer einzigen großen Lebensgeschichte verschmolzen und es unmöglich wurde, Reales von Erfundenem zu trennen. Reales wirkte bei Tulja immer erfunden. Sie glaubte an Astrologie, Mystik und an die Natur. Sie habe persisches Blut in ihren Adern, behauptete sie, und ein Gesicht wie eine babylonische Königin – das sah man! –, sehr besondere Gesichtszüge, die auch mein Vater geerbt hatte und denen man unter anderem seine Anziehung auf Frauen zuschrieb.
    Als ich neun wurde, zogen wir zu ihr ans Meer, nach Niendorf, in ein verschlafenes Küstendorf. Meine Schwester, Ivo und ich. Mein Vater nahm uns an den Wochenenden zu sich, und die Julimonate verbrachten wir in Newark, New Jersey, wo Mama gemeinsam mit James für Merck & Co chemische Experimente durchführte. Im Sommer taten wir immer so, als wäre unser Leben mit Vater märchenhaft und Tulja ein kleiner Pluspunkt zusätzlich, denn unsere Scheune, unser alkoholkranker Vater samt seinen schnell wechselnden Damen, unsere absolut wahnsinnigen Bootstouren, die wir auf eigene Faust unternahmen, und Tuljas widerliche Quittenmarmelade – all das erschien uns viel angenehmer als Newark und Mutters verzweifelte Versuche, uns an sich zu binden.
    Das Merkwürdige daran war, dass es von uns dreien letztlich nur Ivo war, der ihr das Gefühl gab, auch weiterhin unsere Mutter zu sein, und ihr die Sicherheit vermittelte, dass wir sie keinesfalls würden ersetzen können, geschweige denn ersetzen wollen. Das war so, seitdem er sich gefangen und die Sprache wiedergefunden hatte und er in den Newarker Sommern unserer Mutter eine Illusion der Nähe vorgegaukelt hatte.
    Jeder von uns litt an unserer nicht vorhandenen Familie. Ivo schwieg, ich versuchte möglichst unauffällig zu bleiben, am besten unsichtbar zu werden und mich nur darauf zu konzentrieren, als eine Art Sprachrohr für Ivo zu dienen, und meine vier Jahre ältere Schwester Leni kapselte sich zunehmend ab. Sie schien die sichtbarsten Schäden davongetragen zu haben, obwohl sie es sich nicht eingestehen wollte. Sie begann mit Schuldzuweisungen, gab vor allem unserer Mutter und Ivo für alles die Schuld und verlernte es zu lächeln.
    Auch Mutter litt, stritt sich mit James und überhäufte uns mit unzähligen sinnlosen Geschenken oder unternahm hektische Ausflüge mit uns in unzählige Wild- oder Nationalparks. Sie setzte sich noch auf unsere Bettkanten, als wir aus dem Alter längst heraus waren, in dem wir uns über Gutenachtgeschichten gefreut hätten.
    Ich vermisste sie schrecklich, war aber zu stolz, ihr das zu zeigen, und tat andauernd so, als wäre unser Leben die pure Normalität. Ich spielte die unkomplizierte Tochter, und Ivo, der schon damals ein phänomenales Gespür für Menschen hatte, fügte sich, war weich, anschmiegsam, redselig, voller Lust auf die lästigen Wandertouren und Ausflüge, voller ehrlicher Begeisterung für alles, was meine Mutter mit uns veranstaltete.
    Wir fanden uns damit ab, gewöhnten uns daran, dass unser Leben so war, wie es war, nachdem Leni endlich damit aufgehört hatte, Ivo zu bestrafen, dafür, dass er das Unglück ihrer Familie verkörperte. So war es eine fast glückliche Kindheit, ein wenig verrückt, ein wenig abenteuerlich, ein wenig verwahrlost und fast übervoll mit Liebe, die die verstörten Erwachsenen uns angedeihen ließen und die nie recht gesund sein konnte, oder uns
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher