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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling
Autoren: Nino Haratischwili
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beschlossen habe, dass wir uns nicht mehr sehen?
    – Weil ich mich aus Prinzip nie an Abmachungen halte.
    Ich sah ihn an und musste ein Lachen unterdrücken. Er war nach wie vor schön, von der fast schon traurigen, beängstigenden Schönheit eines einsamen Menschen. Eines Menschen, der an sich selbst verzweifelt. Seine leicht mandelförmigen Augen – dunkelgrau, wässrig, mit mädchenhaften Wimpern – waren nach wie vor voller Geheimnisse, die ich so lange zu entschlüsseln versucht hatte, und auch sein spitzbübisch-leichtes Grinsen um die Mundwinkel herum war unverändert geblieben. Meine Liebe zu ihm war wie eine Wunde, die niemals wirklich heilen wollte.
    – Also, um es kurz zu machen: Ich lebe immer noch in New York. Wenn man das als Leben bezeichnen kann.
    Er holte seine Zigaretten aus der Tasche. Ich überlegte, wann ich meine letzte Zigarette geraucht hatte.
    – Ich bin viel unterwegs, habe mich selbstständig gemacht, die Aufträge sind ganz gut, ich nehme alles, was die anderen nicht machen. Die letzten drei Monate war ich in Kabul. War manchmal schon ein wenig ungemütlich. Aber ich und mein Freund Krieg, wir verstehen uns immer noch blendend. Ich bin nicht verheiratet, sonst hätte ich die Familie sicherlich zur Hochzeitsfeier eingeladen. Gesi sehe ich oft. James kränkelt in letzter Zeit, aber Gesi kommt mich besuchen, wenn ich in New York bin, und wir streiten uns weiterhin über Tierversuche und Giftstoffe. Aber das macht ja nichts. Die Welt ist gleich geblieben, ist schon ein Wunder, dass ich sie nicht habe retten können. Du siehst, mir geht’s gut, Stella. Du hast mir ab und zu gefehlt. Das war’s eigentlich. Und mit der Liebe klappt es auch ganz gut für die zwei, drei Monate, die ich an einem Ort verbringe.
    Er war aufgestanden und schaute aus dem Fenster.
    – Ich würde gern dein Kind sehen!, sagte er plötzlich, und ich stellte fest, dass sein Deutsch durch das Englische weicher geworden war und es seiner Stimme schmeichelte.
    – Du kannst ihn kennenlernen.
    – Und werde ich auch deinen Mann kennenlernen?
    – Ja, du kannst auch meinen Mann kennenlernen.
    Eine Weile sahen wir beide aus dem Fenster. Schließlich fasste ich Mut und fragte ihn:
    – Wieso bist du wiedergekommen?
    – Ich hatte auf einmal das Gefühl, nicht mehr zu wissen, wer ich bin. Ich denke, man kann sein Leben nicht auf fast forward stellen. Das habe ich aber getan, und eine ganze Weile hat es funktioniert. Ich muss nun aber zurückspulen. Ich muss zurückspulen, und das geht nicht ohne Frank, ohne Tulja, ja sogar Leni brauche ich vielleicht, aber vor allem brauche ich dich, Stella. Ich muss wieder hier sein, eine Weile muss ich das. Dein Gin Tonic ist wunderbar gemixt. Früher konntest du es nicht. Ich vermute, eine Errungenschaft der letzten Jahre.
    – Wir haben das Kapitel endgültig abgeschlossen, Ivo. Und ich denke nicht, dass es richtig wäre, jetzt …
    – Wir haben gar nichts abgeschlossen, mach dir doch nichts vor.
    Seine Stimme wurde auf einmal kalt, distanziert, leicht verächtlich. Diese ungemeine Kälte, die er ausstrahlte, wenn er Angst hatte, zurückgewiesen zu werden. Wie hatte er mir damit wehgetan, obwohl ich wusste, dass sie gespielt war, dass er nur so tat, aber er spielte es so überzeugend, dass es unmöglich war, in dem Moment nicht davon getroffen zu sein.
    – Es ist abgeschlossen, Ivo, ich habe ein neues Leben. Ich habe andere Prioritäten jetzt. Vor allem habe ich ein Kind, dessen Glück mir wichtiger ist als irgendwelche Befindlichkeiten. Ich habe meinen Frieden gefunden.
    – Deinen Frieden hast du also gefunden? Schön, sehr schön. Pass auf, Stella, du musst mir helfen, und vielleicht kann ich dann dir helfen.
    – Helfen, mir helfen? Mir ist bereits geholfen, ich brauche keine anderweitige Hilfe. Und dir? Wie soll ich dir helfen? Wie stellst du dir das vor? Du bist deinen Weg gegangen. Du bist ein anderer als der von damals . Du hast jetzt andere Erfahrungen, andere Gefühle, andere Gedanken. Ich kann nicht so tun, als läge keine Zeit dazwischen. Es macht mir was aus, nach wie vor, ich bin verwirrt, überfordert, weil du hier bist, und ich bin froh, vielleicht auch erleichtert, dich hierzuhaben. Aber ich weiß nicht, was ich tun kann. Wenn du reden willst, dann reden wir, aber das war’s dann auch, Ivo.
    – Ich muss mich nur ein wenig erinnern. Und du kannst mir dabei helfen, nicht wahr?
    Ich verweigerte ihm eine Antwort, und so blickten wir beide für ein paar Minuten schweigend
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