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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling
Autoren: Nino Haratischwili
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Mein Blick fiel auf meine feuchten Finger und meinen Ehering – schmal, dezent, bei dem ich mich so lange habe nicht entscheiden können, ob er nun der richtige war, um mich mein Leben lang zu begleiten.
    Ich wusste, dass sich alles ändern würde, ich wusste, dass es am besten wäre, mich dagegen zu wehren – Mark anzurufen und ihn zu bitten, mich auf seine Geschäftsreise mitzunehmen, den Kleinen zu den Großeltern zu bringen und irgendwohin zu verschwinden, bis die Wolken vorübergezogen waren.
    Eines Tages hatte er zurückkommen müssen. Ich hatte es erwartet, mir diesen Moment schon oft ausgemalt und alles Erdenkliche in meinem Kopf durchgespielt. Ich hatte mich gewappnet, mich in einer vermeintlichen Sicherheit gewiegt. Aber bis heute hatte sich alles in meinem Kopf abgespielt. Bis jetzt war ich die Puppenspielerin gewesen und hatte die Fäden in der Hand gehalten.
    Die Jahre mit ihm und die vielen durchfochtenen Kriege wegen, mit oder ohne Ivo hatten mir die Sicherheit im Umgang mit unserer Vergangenheit nicht genommen; ich hatte mich bewährt, und ich hatte ihn in meinem Leben behalten. Ungeachtet aller guten Ratschläge hatte ich unsere Kinderfotos aufgestellt, hatte Mark die offizielle Version unserer Geschichte erzählt, hatte an seinen Geburtstagen grußlose Päckchen an ihn geschickt – solange ich noch seine Adresse besaß – und bei Geburtstagen immer wieder Toasts auf ihn ausgebracht, was nicht selten zu hitzigen Diskussionen, sogar zu Gebrüll am Tisch führte.
    Ich hatte ihn einbalsamiert in eine abgeschlossene Vergangenheit, hatte ihm jeglichen Raum, sich zu entwickeln, genommen, auch dies war mir durchaus bewusst. Ich hatte ihn als das Kind, den Jungen, den Mann in meinem Kopf behalten, der sein Leben mit mir geteilt hatte, der existent war in mir, in meinem Kosmos. Er aber war weg. Er war weg aus meinem Leben und weg aus seinem Leben, das ich so lange als meines betrachtet hatte.
    Ich riss mich aus meinen Gedanken, ging ins Badezimmer, nahm eine Dusche, trank noch einen Kaffee und zog mir eine schwarze Hose an. Ich stand vor dem Schrank und versuchte, mich für ein Oberteil zu entscheiden, bekam einen Blackout und starrte die in die Regale gestopften Pullis, T-Shirts und Blusen an. Ich starrte und starrte, als läge darin die Lösung, die Klärung, die Ruhe versteckt, die ich jetzt so dringend benötigte. Ich sah sein Gesicht vor mir, sein Gesicht von damals, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, und ich legte mir automatisch die Hand auf die Lippen, um nicht aufzuschreien.
    Ja, eigentlich fing das Ganze mit dem Ende an. Aber so war es immer gewesen in meinem Leben: Das Familiengefüge, in dem ich aufgewachsen bin, wir aufgewachsen sind, war immer verkehrt. Irgendwann traute ich mich nicht mehr, meine Verwandtschaft mit Possessivpronomina zu benennen. Denn wenn ich sagte, mein Vater oder meine Mutter, mein Bruder oder meine Großmutter, musste ich immer ein eigentlich hinzufügen.
    – Dein Vater? Und warum wohnst du nicht bei ihm?
    – Weil meine Eltern geschieden sind.
    – Und warum wohnst du nicht bei deiner Mutter?
    – Weil sie in Amerika lebt.
    – Aber warum hat sie dich nicht mitgenommen?
    – Weil wir es so beschlossen haben.
    – Und kommt sie manchmal hierher?
    – Nein, wir fahren immer zu ihr.
    – Und wieso wohnst du bei Tulja?
    – Sie ist die Tante meines Vaters, also meine Großmutter.
    – Und wieso wohnst du nicht bei deiner richtigen Großmutter?
    – Sie ist meine richtige Großmutter, wir haben keine andere Großmutter.
    – Und wieso trägt deine Schwester deinen Namen und dein Bruder nicht?
    – Weil mein Bruder adoptiert ist und er den Namen seiner Eltern behalten hat.
    Um all das zu vermeiden, sagte ich später: Das ist Leni. Das ist Tulja. Das ist Ivo. Das ist …
    Ich erwachte aus meinem komatösen Zustand mit einem dunkelblauen T-Shirt in der Hand und zog es mir über. Es erinnerte mich an meinen Mann, an mein Kind, daran, dass ich im Hier war, im Jetzt, und dass alles, woran sich mein Hirn gerade festklammerte, vergangen war. Ich atmete tief durch und zwang mich zu einem Lächeln, ich musste wieder Boden unter den Füßen spüren.
    Ich suchte das Telefon, das diesmal unter die Bettdecke abgetaucht war, und rief in der Redaktion an.
    – Hey, Leo. Ich wollte mich ein paar Tage abmelden, ich muss für die Biennale recherchieren und werde erst Mittwoch wieder ins Büro kommen, ist das okay für euch?
    – Oh … verstehe. Aber was ist mit morgen? Du kommst doch
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