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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling
Autoren: Nino Haratischwili
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Bett und kroch auf allen vieren zum Telefon, das auf der Kommode lag. Als wäre es ein Naturgesetz, wurde es immer an den unpassendsten Stellen abgelegt.
    – Wach auf, ich weiß, dass du da bist. Er ist wieder da.
    – Mein Gott, Tulja, weißt du, was du mir gerade antust? Ich habe seit den letzten hundert Jahren zum ersten Mal eine Portion Schlaf bekommen, und jetzt kommst du und weckst mich auf. Also bitte, kannst du nicht später …
    – Nein, kann ich nicht. Versteh endlich! Er ist da, mein Gott, wach auf! Ich kann es nicht fassen. Er ist einfach so reingeplatzt, unser kleiner Adonis, du kannst dir nicht vorstellen, wie gut er aussieht. Morgens um sieben ruft er mich an und sagt, er sei in der Stadt, er wolle eine Weile hier bleiben, er wolle …
    – Tulja, wer? Von wem redest du, um wen geht es, verdammt noch mal?
    – Ivo, Ivo, unser Ivo!
    Mir fiel fast das Telefon aus der Hand. Vielleicht ist es mir sogar aus der Hand gefallen, und ich erinnere mich nicht mehr. Ich war so aus der Fassung gebracht, dass ich zurücktaumelte und mich auf die Bettkante setzte. Besser gesagt, ich fiel.
    Kein Tag meiner bewussten Erinnerung, an dem ich nicht an ihn gedacht, mich nicht gefragt hatte, was er wohl machte, wo er war, wie es ihm ging. Aber in den sieben Jahren waren diese Gedanken zur Routine geworden, die ruhig, unaufgeregt, selbstverständlich war, so dass ich der festen Überzeugung war, sie hätten nichts mit der Realität zu tun. Ich hatte meinen Ivo, der in meinem Kopf lebte und um den ich mich sorgte, aber der eigentliche, der wirkliche Ivo aus Fleisch und Blut, den hatte ich seit sieben Jahren nicht mehr gesehen, er war aus meinem Leben verschwunden, war seinen Weg gegangen, der so weit entfernt von meinem lag, dass jeder Schritt, den er auf diesem Weg gegangen war, ihn immer mehr von mir entfernt hatte.
    – Was hat er hier verloren?, war das Gescheiteste, was mir einfiel.
    – Woher soll ich das wissen! Er ist erst seit einer Stunde bei mir und gerade raus, um Zigaretten zu kaufen. Da musste ich dich einfach anrufen …
    – Aber er muss doch irgendetwas gesagt haben?
    – Ist doch egal, mein Gott. Er ist da, das ist erst mal das Wichtigste. Er will eine Weile hierbleiben, hat er gesagt, und ich werde nicht versuchen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
    – Hat er nach mir gefragt?
    – Ich habe ihn erst mal eine Stunde lang abgeküsst, der Arme konnte gar nicht mehr sprechen, ich glaube, ich habe ihn beinahe erwürgt.
    Ich erkannte in Tuljas Stimme die beinahe schon vergessene Aufregung wieder, die von ihr Besitz ergriff, immer wenn von ihm die Rede war. Eine Mischung aus mütterlichem Stolz auf ein vom Leben benachteiligtes Kind, das umso deutlicher und ausdrücklicher geliebt werden musste, und aus einem gewissen Stolz auf sich selbst, denn Ivo verkörperte all das, was ihr erstrebenswert erschien, und sicherlich sah sie den Einfluss ihrer Erziehung in ihm am stärksten präsent.
    – Was soll ich jetzt tun? In Jubelgeschrei ausbrechen? Und wieso rufst du ausgerechnet mich an? Ich meine, was erwartest du von mir?, sagte ich hilflos und ärgerte mich sofort über meine dämliche Frage, weil ich mich von einer Sekunde auf die andere wieder in die Rolle des kleinen Mädchens, Tuljas Zögling, hineinmanövriert hatte. Es entstand eine Schweigepause in der Leitung. Ich wusste genau, dass Tulja sehr widersprüchlich handelte, gänzlich von ihren Emotionen eingenommen, und nicht immer lange überlegte, bevor sie etwas sagte oder tat, aber in diesem Punkt misstraute ich ihr, weil ich nie ganz dahintergekommen war, in all den Jahren nicht, was sie eigentlich wirklich darüber dachte, über Ivos und meine Geschichte, wie viel genau sie wusste und was sie dazudichtete, was sie sich ausmalte und was genau sie hatte verhindern wollen.
    – Oh, es klingelt, er ist zurück. Ich muss ihm aufmachen. Ich rufe dich in ein paar Stunden wieder an. Oder er ruft dich selbst an. Auf alle Fälle erwarte ich dich demnächst hier.
    Ich wollte ihr etwas erwidern, aber Tulja hatte schon aufgelegt. Mein Schlafbedürfnis war schlagartig gewichen, ich war hellwach. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen, ging in die Küche, machte Kaffee und setzte mich an die Bartheke, um die Mark so lange gekämpft und die ich noch nie gemocht hatte. Ich zitterte am ganzen Körper, und meine Augen brannten. Ich hielt die Kaffeetasse umklammert und sah aus dem Fenster in den grauen Nieselregen. Ein gewohntes Bild, an das ich mich nie gewöhnen würde.
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