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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling
Autoren: Nino Haratischwili
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gehen und ihm sagen können, dass er seine Frau begehrte, dass er mich – entgegen meinem Wunsch – an jenem Nachmittag hätte mitnehmen sollen, sei es auch, dass er mich dazu gezwungen, dass er mich vom Baum heruntergezerrt und in seinen Armen davongetragen hätte. Durch die Kellertür. Auf die Straße. Nach draußen.
    Vielleicht wollte Ivo einfach diese fremde Geschichte aufdecken, sie erzählen, um mir zu zeigen, dass diese Umstände genauso verantwortlich für unsere Schuld, unser Scheitern waren wie der Krieg in Salomes und Lados Geschichte, in Majas und Bubas, in Nanas und des russischen Diplomaten. Dass es unser beider Fehler war, diese Schuld uns allein aufzubürden, dass es ein Fehler war, dass all unsere Versuche, uns selbst durch die Erwachsenen anzuklagen, uns selbst strafen zu lassen – an dem Schweigen gescheitert waren, das man uns entgegenbrachte. Dass unser Unglück vielleicht durch einen Nachmittag entstanden und ins Rollen gekommen war, aber nicht unsere Nähe, nicht unsere Sehnsucht nach einander, nicht wir. Dass wir nicht daran Schuld tragen konnten, uns ausgesucht zu haben. Vielleicht.
    Der Russe war alt geworden in den Jahren. Er arbeitete immer noch in der Verwaltung, in einem Krisengebiet, selbst heimatlos. So schrieb es Ivo in seinem Ordner Nevsky , in dem ich die restlichen Stücke des Puzzles fand. Er hatte eine georgische Frau geheiratet, die schweigsam und verletzt an seiner Seite lebte; im Schatten einer Toten.
    Im Schatten einer Toten hatten auch wir gelebt.
    Der Russe erzählte ihm seine Geschichte. Ivo hatte monatelang mit dem Russen korrespondiert und alles in dem Ordner aufbewahrt, und der Russe hatte viel geschrieben, alles, was Ivo hatte wissen müssen, als hätte er darauf gewartet, dass ihn eines Tages ein Fremder von seinem Schweigen erlösen würde.
    Und Ivo hörte einer anderen zu, der Geschichte hinter der Geschichte: seiner Geschichte.
    Ich gehe heute davon aus, dass Alexej Nevsky bei ihrer Begegnung Lado die Wahrheit gesagt hat, über Nana, seine Frau und über den Tag, an dem sie nicht ins Auto gestiegen war. Alles, was auch Ivo von ihm erfahren hatte, erzählte der Russe Lado. Dann setzten sie sich irgendwann in ihre Autos. Ich weiß, dass sich auch Alexej Nevsky in sein Auto setzte. Ich weiß, dass sie nicht weit von der Strandpromenade waren, dem endlos langen Kai, der nach dem Krieg als Erstes wieder aufgebaut worden war, gestrichen, die vielen Einschusslöcher nur oberflächlich zugespachtelt.
    Ich weiß, dass Lado sich ans Steuer setzte, und ich glaube, dass Ivo das nur deswegen zuließ, weil er glaubte, dass die Wahrheit, die Lado gerade erfahren hatte, wenn kein Glück, so doch Frieden versprach. Warum hat Ivo vergessen, warum hat er vergessen, dass die Wahrheit nicht immer heilt, dass sie auch töten kann?
    Ich weiß, dass Lado ruhig den Motor startete, ruhig das Lenkrad drehte und bedächtig losfuhr, dem Russen die Vorfahrt ließ und dann, als er sich auf der Chaussee in der linken Spur einreihte, abrupt das Lenkrad drehte und hinter dem grünen Lada Niva von Alexej Nevsky auftauchte. Ich weiß, dass er seinen Fuß nicht mehr vom Gaspedal nahm und direkt auf das grüne Auto zuraste und dass der Russe die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor, ins Schleudern kam und das Auto die Steinmauer der Promenade rammte, bevor es sie durchbrach und erst sechs Meter tiefer auf dem Sand aufprallte. Ivos Landrover durchbrach nicht die Absperrung, sondern überschlug sich mehrfach und kam mitten auf der Fahrbahn zum Stehen. Ich weiß, dass ein weißer Mercedes ungebremst in die rechte Seite des Landrovers prallte, was Ivo das Leben kostete.
    Alexej Nevsky lebte noch drei Stunden und starb dann an seinen inneren Verletzungen. Lado lebte nur noch ein paar Minuten, er starb, weil seine Lunge zerquetscht worden war. Ivo war sofort tot, sein Herz hörte auf der Stelle auf zu schlagen.
    Der Mann, dem der Mercedes gehörte, war Franzose. Er überlebte den Unfall. Er war als internationaler Beobachter der UN dort.
    Ich musste im Leichenschauhaus von Suchumi die beiden identifizieren. Salome bekam keine Genehmigung, in ihre Geburtsstadt einzureisen. Per Flugzeug wurden die Leichen nach Tiflis überführt.
    Während Lado einbalsamiert wurde, um ihn nach orthodoxer Tradition in einer dreitägigen Zeremonie zu beweinen und zu verabschieden, ließ ich Ivo einäschern. Erst nachdem ich seine Asche aus dem Krematorium geholt hatte, rief ich in Deutschland an. Aus irgendeinem merkwürdigen
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