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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling
Autoren: Nino Haratischwili
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Nacht hatte sie ihn darum angefleht, und er sie, nicht von ihm wegzugehen, ihm wenigstens einmal sein eigenes Kind zu zeigen oder sich zu überlegen, ganz mit ihm ein neues Leben zu beginnen. Sie stellte sich die Lyrikabende und feierlichen Säle vor, sah sich wieder im Desdemona-Kostüm, dachte an die weiche, ungefährliche, junge Liebe des Russen und glaubte für einen kurzen Augenblick, es könne ihre Zukunft sein. Aber nur kurz, so kurz, dass sie mit ihm in sein Apartment gefahren und bis zum Morgengrauen bei ihm geblieben war, um seine Untröstlichkeit mit ein wenig Nähe zu stillen.
    Aber er wollte sie weiter bei sich behalten, versprach ihrer Familie unanfechtbaren Schutz, wenn sie bliebe. Er versprach, sie in den nächsten Tagen mit seinem Wagen nach Batumi zu bringen. Er versprach absoluten Schutz für ihre Kinder, für ihre Freundin, sogar für ihren Mann garantierte er, alle würden unversehrt nach Tiflis kommen. Und er hielt, was er versprochen hatte. Er erreichte sogar, dass Lado überlebte. Lado, der seine ganze Brigade verlor und selbst überlebte, ohne zu wissen, dass er sein Leben dem Liebhaber seiner Frau verdankte, dem leiblichen Vater seines einzigen Sohnes.
    Ivo hatte es herausgefunden. Über Wochen hatte er mit Alexej Nevsky korrespondiert.
    Der Russe hatte damals Nana versprochen, sie und seinen Sohn ziehen zu lassen, wenn sie nur ein paar Stunden länger bei ihm blieb. Nana blieb. Sie blieb und sicherte damit ihrer Familie das Überleben. Sie blieb unter dem Bombardement, mit dem Wissen um die komplette Okkupation.
    Dann verließ Salome Suchumi. Ein paar Tage später wurde Nanas und Lados Haus in Brand gesetzt. Es war der Tag, an dem Nana dorthin zurückgekehrt war. Allein, nicht in Begleitung des Russen und ohne dessen Schutz, denn an sie hatte er nicht gedacht, er hatte vergessen, dass sie seinen Schutz wohl am meisten nötig hatte. Was genau mit ihr geschehen war, hat er nicht erfahren. Drei Tage suchte er sie, und nach diesen drei Tagen hatte er ihre verbrannte Leiche kaum identifizieren können, erst Wochen später konnte durch die Gerichtsmedizin mit Sicherheit festgestellt werden, dass es sich um Nana handelte.
    Sie war einfach aus seinem Haus gegangen zurück zu ihrem. Und dort hatte man drei Tage später ihre Leiche gefunden.
    Es war Krieg.
    Es war eine falsche Zeit.
    Der Russe hatte sein Versprechen gehalten: Er hat auf seinen leiblichen Sohn verzichtet. Ließ dem Mann seinen Sohn – für seine tote Frau. Ivo versprach sich Frieden, und er versprach ihn dem Georgier und dem Russen. Ivo wollte etwas gutmachen.
    Er wollte Fremde um Verzeihung bitten. Für mich und für sich. Er bat seine tote Mutter um Verzeihung, indem er einer anderen toten Frau die Wahrheit schenkte. Er wollte Lado zu dem Mann bringen, den er so sehr hasste, dem er die Schuld am Tod seiner Frau gab, dem er aber einen Sohn verdankte, der Lado ein zweites Leben geschenkt hatte. Das hatte Ivo gewollt, so wie er gewollt hätte, dass mein Vater seinen Vater aufgehalten, ihm die Wahrheit gesagt und vielleicht das Unfassbare verhindert hätte. Er wollte Salome die Freiheit schenken, zu gehen, zurückzugehen zu ihrer Familie, weil sie Lado nicht mehr würde die Erinnerung ersetzen müssen, sowie mir die Freiheit für meine Entscheidung: zu gehen oder zu bleiben, aus meinem eigenen Willen und nicht aus Zwang, für die Erinnerung an einen Nachmittag.
    Er hatte einem Jungen die Möglichkeit einer schuldfreien Zukunft schenken wollen, so wie er sich eine gewünscht hatte. Mehr als alles andere auf der Welt.
    Er hatte fremde Menschen in einem fremden Land dazu gebracht, dass sie das Schweigen brachen. Er hatte ihnen Fragen gestellt, er hatte gesucht und gefunden, er hatte das Früher und das Jetzt zusammenbringen wollen, weil er das für sich und seine Familie nicht geschafft hatte.
    Und vielleicht wollte er von einem kleinen Mädchen erzählen, das in Kriegstagen um sein Leben gerannt war, weil es glaubte, den Tod heraufbeschworen zu haben. Die Geschichte von einem anderen Mädchen erzählen, das gerannt war, um etwas aufzuhalten, was es nicht mehr aufhalten konnte.
    Vielleicht hatte er mich zu dieser Erkenntnis zwingen wollen, dass meine Mutter in jener Nacht, als Emma zurückfuhr, zum Haus am Hafen, ihren Mann zur Rechenschaft hätte ziehen können. Dass mein Vater – nachdem er vor dem Ehemann seiner Geliebten geflüchtet war – hätte nach Hause fahren und auf Emma und mich warten können. Dass er zu Ivos Vater hätte
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