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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling
Autoren: Nino Haratischwili
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Gesicht, und ich spürte, dass etwas Warmes und Flüssiges meine Lippe herunterrann. Ich fasste mir an die Lippe und wischte es weg, ergriff den kleinen orangefarbenen Stuhl, der so oft die Leiter zu den verbotenen Dingen im Haus gewesen war, und begann damit um mich zu schlagen. Spielzeug fiel zu Boden, die Mickey-Mouse-Taschenlampe, unsere Bastelsachen, unsere Malhefte, Ivos Comicstapel. Ivo starrte mich fassungslos an. Seine Mundwinkel waren nach unten gezogen und seine Augen glänzten im matten Frühabendlicht.
    – Ich hasse dich, sagte er und sah mir in die Augen. Ich hasse dich. Das alles ist deine Schuld. Du bist schuld, ich will dich nie mehr wiedersehen.
    Bei seinen Worten kehrte meine Angst wieder zurück und zusammen mit ihr mein Schmerz, der in jedem Glied meines Körpers festsaß. Nichts hatte mir so sehr wehgetan wie diese Worte. Nichts hatte mein bisheriges Leben so erschüttert wie dieser Blick, mit dem er mich ansah. Und doch stand ich da und sah ihn an. Ich hielt seinen Hass aus.
    – Sag es ihm. Sag es ihm doch. Sag es deinem Vater. Sag es ihm. Sag es ihm, wenn du den Mut dazu hast. Wer ich bin, dann bist du mich los.
    Immer und immer wieder rief ich es, bis er auf mich zukam und mir mit der Hand den Mund zuhielt. Als er sicher war, dass ich verstummt war, ließ er mich los und stürmte aus dem Zimmer.
    Als es schon dunkel war, weckte mich eine weiche Frauenhand auf. Ich lag auf dem Boden und schlief. Zwischen den Trümmern von Ivos Zimmer. Emma lächelte mich an. Ihre Augen waren wie gewohnt mild und verhüllt, als hüte sie ein Geheimnis.
    – Was habt ihr nur getan?, sagte sie und strich mir das Haar aus dem Gesicht. Sie setzte sich zu mir auf den Boden und nahm mich in die Arme.
    – Wo ist Ivo?, fragte ich.
    – Ivo ist mit seinem Vater weggegangen. Ich fahre dich jetzt nach Hause. Es ist schon spät. Komm, wir waschen dir das Gesicht.
    – Ich will nicht nach Hause.
    – Aber du musst, Kleine. Dein Papa wartet auf dich.
    – Ich will zu Ivo.
    – Das geht jetzt nicht, Stella. Sieh mich an und hör mir zu: Es wird eine Zeit lang ein wenig schwierig werden, aber dann wird alles gut. Es wird alles gut, nur, eine Weile werden wir uns nicht sehen können, und du wirst auch Ivo nicht sehen können, aber bald kommt ihr wieder her, ja?
    – Wie lange dauert die schwierige Zeit?
    – Das weiß ich nicht, mein Schätzchen. Das weiß ich noch nicht. Nicht allzu lang. Schwierige Zeiten kommen einem lange vor, dabei sind sie gar nicht so lang. Komm, steh auf, und wir fahren nach Hause.
    – Aber du weißt doch gar nicht, wo wir wohnen.
    – Natürlich weiß ich das, Stella. Das weiß ich.
    Sie brachte mich ins Bad und wusch mir das Gesicht. Dann tat sie mir ein wenig Salbe auf die Unterlippe, die aufgerissen war, und immer, wenn sie das Gesicht zu mir hinunterbeugte, sah ich Tränen in ihren Augen. Alles im Haus schien so vertraut und friedlich. Das Geschirr in der Küche, das noch ungewaschen auf dem Tisch stand. Die Wasserflaschen im Hausflur. Pidys Napf. Ivos Hausschuhe in der Ecke und mein Fahrradhelm, den Frank liegen gelassen hatte.
    – Komm, hier, dein Helm, sagte Emma, als hätte mein Blick sie darauf gebracht. Mein geblümter Helm, von dem unsere Mutter zwei Stück gekauft hatte, für mich und Leni, um die wir uns so oft stritten, da wir sie manchmal nicht auseinanderhalten konnten.
    Wir fuhren mit dem großen Mercedes durch die Stadt. Ich saß hinten, angeschnallt, und starrte die ganze Zeit auf Emma, die den Weg zu unserem Haus genau zu kennen schien. Es war sehr spät, die Straßen waren leer, und der Wind wurde immer heftiger, immer gereizter. Bevor wir ausstiegen, holte sie eine Sonnenbrille aus der Tasche und setzte sie auf, obwohl es stockfinster war. Sie nahm mich bei der Hand, wir blieben vor unserem Haus stehen, als wären wir zwei Fremde. Sie klingelte einmal kurz, und ich wartete darauf, dass mein Vater öffnen würde, doch machte meine Mutter die Tür auf, und gleich darauf rannte Leni im Pyjama aus dem Zimmer und blieb hinter Mama stehen. Und so standen wir da – Gesi und Leni auf der einen Seite und Emma und ich auf der anderen. Als wäre Leni Gesis Tochter und ich wäre Emmas Kind, das sie für eine kurze Zeit bei der fremden Familie lassen musste. Ich konnte ihre Augen hinter der dunklen Sonnenbrille nicht erkennen, aber sie trat einen Schritt zurück, als sie meine Mutter sah. Ich wusste nicht, ob sie sich jemals zuvor gesehen hatten. Mutters Gesichtsausdruck verriet mir,
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