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Mein Name ist Afra (German Edition)

Mein Name ist Afra (German Edition)

Titel: Mein Name ist Afra (German Edition)
Autoren: Angela Dopfer-Werner
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voll Dunkelheit und Kälte habe ich erkannt, daß mir dieses fromme Leben nichts genützt hat. Keine Ruhe und keinen Frieden kann ich finden in der Ewigkeit Gottes, denn dieser schwarze Engel mit den goldbraunen Augen, der mir so sehr vertraut ist, weicht nicht von meiner Seite. Mehr als tausend Jahre sind seit unserem gemeinsamen Schicksal vergangen, und meine Freundin Richlint kann nicht länger warten. Sie will und soll nicht länger die unbekannte Frau ohne Vergangenheit und Geschichte aus dem einsamen und unheimlichen Moor bei Pitengouua sein, die manche Menschen vielleicht sogar für eine Verbrecherin halten, weil sie dort so allein und heimlich begraben wurde.
    Mein Name ist Afra, und ich werde jetzt die ganze Wahrheit über meine Freundin Richlint und ihr Leben und ihren Tod erzählen, wenn es mich auch schmerzt, mich an die eigenen Sünden zu erinnern.

939 - 940 Kindheit

Ein lauer Wind strich über den Moorsee und seine dicht bewachsenen Ufer, schaukelte sanft das grüne Schilf und die hohen, braunen Rohrkolben, die in dichten Gruppen beieinander standen, hin und her. Vom nahen Birkenwäldchen mit seinen weißen Stämmen und den schon herbstbunt gefärbten Blättern schoß ein kleiner, zarter Vogel herbei, segelte dicht über dem Wasserspiegel auf der Suche nach Mücken, fetten Wasserspinnen oder einer flirrenden Libelle. Ein blaugrüner Kiebitz stakste über die sumpfige Uferwiese, zupfte mit dem Schnabel an grünen Pflänzchen und sicherte immer wieder mit schnellen, scharfen Vogelblicken seine Umgebung. Es war sehr still, außer den Rufen der gefiederten Sänger und dem Rascheln der trockenen Schilfblätter war kein Geräusch zu vernehmen.
    Warme Herbstsonne lag über dem dunklen, fast schwarzen Naß und entzündete hin und wieder goldene Lichter im hellbraunen Haar des kleinen Mädchens, das ruhig am Ufer kniete und langsam mit den Händen durch das weiche, dichte Wasser fuhr. Ganz still und in Gedanken versunken saß sie da, und wenn nicht zuweilen das Aufblitzen der Sonne im vom Wind bewegten Haar gewesen wäre, hätte niemand auf den ersten Blick das Kind von seiner Umgebung unterscheiden können. Dunkelbraun wie der Torf ringsum war ihr einfacher Wollüberwurf, mager und sehnig wie junge Wurzeln ihre nackten Arme und Beine, das lange, volle Haar war in zwei sauber geflochtenen Zöpfen festgehalten, die bis über die schmalen Hüften hinabfielen. Eine dicke, goldfarbene Strähne hatte sich aus dem ordentlichen Flechtwerk des Kopfes gelöst, und der leichte Wind blies sie immer wieder über das tief übers Ufer gebeugte Gesicht, doch keine Hand war frei, sie wegzuwischen. Gebannt schaute das Mädchen dem Spiel ihrer Hände mit den Tropfen zu, wie die Finger ganz langsam eintauchten ins Warme, Feuchte, an der Oberfläche sichtbar und tiefer gesenkt Stück um Stück verschwunden im Dunkeln des Moorwassers. “Keine Finger mehr“ dachte sie, und erschrocken über diese Vorstellung zog sie beide Hände mit einem Ruck zurück aus dem Naß, daß das Wasser nur so spritzte und Hunderte Tropfen im Sonnenlicht wie Edelsteine blitzten.
    Sie erinnerte sich genau an den noch jungen Mann in zerrissenen, ärmlichen Lumpen, der eines Tages durch die  Siedlung zog und an jedem Hofeingang mit einer eisernen Schelle, die an einem groben Strick um seinen mageren Leib gebunden war, läutete und um eine kleine Münze, Essen oder Kleidung bettelte. Die Hand, die er bittend ausstreckte, hatte nicht einen ganzen Finger mehr, drei stumpfe Glieder ohne Kuppe und ein dunkelroter, mit gelbem Schorf überzogener Daumen war alles. Neugierig hatten sich die Dorfkinder um den Fremden geschart, denn alles Neue und Unbekannte zog sie an, und so eine seltsame Krankheit hatten sie nie vorher gesehen. Doch die Frauen des kleinen Weilers riefen ängstlich die Kinder zu sich und schlossen schnell die Tore, nicht ohne ein wenig Essen oder ein Stück alten Wollstoff auf die Erde vor den Zaun zu legen. Diese Krankheit sei das Zeichen einer großen Sünde, die der junge Mann begangen habe, erklärten sie den Kindern, und wer solchen Menschen zu nahe käme, der müsse einen Teil der Schuld auf sich nehmen und werde selber krank. Aber das christliche Gebot der Nächstenliebe gelte gerade auch bei Armen und Aussätzigen, und deshalb sei es richtig, Almosen zu geben, wenn man selbst etwas entbehren könne.
    Ganz versunken in seine Gedanken hockte das zierliche Kind am Ufer des Moorsees, und während es seine Finger wieder langsam hineingleiten
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