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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern
Autoren: Lisa Genova
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eine ernsthafte Karriere in der Wissenschaft anstrebte, bestand darin, die Erscheinungsjahre veröffentlichter Studien zu kennen, die Einzelheiten der Versuche und wer sie durchgeführt hatte. Alice flößte ihren Studenten und Postdoktoranden oft Respektein, indem sie sieben Studien, die für ein bestimmtes Phänomen relevant waren, lässig herunterrasselte, komplett mit den jeweiligen Autoren und Erscheinungsjahren. Die meisten älteren Kollegen an ihrem Institut beherrschten diese Kunst mit links. Tatsächlich herrschte unter ihnen ein unausgesprochener Wettstreit darüber, wer über den vollständigsten, auf Anhieb abrufbaren mentalen Katalog der Bibliothek ihrer jeweiligen Disziplin verfügte. Alice hatte sich das imaginäre Blaue Band für herausragende Leistungen mehr verdient als irgendjemand sonst.
    »Nye, MBB, 2000«, rief sie aus.
    »Ich staune immer wieder, wie Sie das machen. Im Ernst, wie behalten Sie all diese Informationen bloß im Kopf?«
    Sie nahm seine Bewunderung mit einem Lächeln entgegen.
    »Sie werden es noch selbst sehen. Wie ich schon sagte, Sie haben alles noch vor sich.«
    Mit entspannter Miene überflog er rasch die restlichen Seiten.
    »Okay, ich bin restlos begeistert, das sieht sehr gut aus. Haben Sie vielen Dank. Ich bringe es Ihnen gleich morgen wieder!«
    Und schon war er zur Tür hinaus. Nachdem dieser Punkt abgehakt war, warf Alice einen Blick auf ihre Erledigungsliste, die auf einer gelben Post-it-Notiz am Hängeschrank genau über ihrem Computerbildschirm klebte.
     
    Kognitionskurs
    Lunch-Seminar
    Dans Aufsatz
    Eric
    Geburtstagsessen
     
    Zufrieden hakte sie »Dans Aufsatz« ab.
    Eric? Was hatte das noch zu bedeuten?
    Eric Wellman war der Leiter des Instituts für Psychologie in Harvard. Wollte sie ihm irgendetwas sagen, ihm irgendetwas zeigen, ihn irgendetwas fragen? Hatte sie eine Besprechung mit ihm? Sie sah in ihrem Kalender nach. Elfter Oktober, ihr Geburtstag. Nichts über Eric. Eric . Es war absolut rätselhaft. Sie öffnete ihr Posteingangsfach. Nichts von Eric. Sie hoffte, dass diese Sache keinen Termindruck hatte. Irritiert, aber zuversichtlich, dass ihr irgendwann schon wieder einfallen würde, was es mit Eric auf sich hatte, warf sie diese Merkliste, ihre vierte an diesem Tag, in den Papierkorb und zog eine neue Post-it-Notiz von ihrem Block.
     
    Eric?
    Ärztin anrufen
     
    Gedächtnisausfälle wie diese reckten ihr hässliches Haupt in letzter Zeit mit einer Häufigkeit, die Alice beunruhigte. Sie hatte den Anruf bei ihrer Hausärztin vor sich hergeschoben, weil sie davon ausgegangen war, dass sich diese Episoden von Vergesslichkeit mit der Zeit von allein wieder legen würden. Sie hoffte, vielleicht zufällig von irgendjemand in ihrem Bekanntenkreis etwas Beruhigendes über die natürliche Vergänglichkeit dieser Phase zu erfahren und einen Arztbesuch möglicherweise ganz vermeiden zu können. Dass es je dazu kommen würde, war allerdings unwahrscheinlich, da all ihre Freunde und Harvard-Kollegen, die dem Alter nach in den Wechseljahren sein könnten, Männer waren. Sie gestand sich ein, dass es vermutlich tatsächlich an der Zeit war, sich ärztlichen Rat einzuholen.

    Alice und John gingen gemeinsam vom Campus zum Epulae am Inman Square. Drinnen entdeckte Alice ihre älteste TochterAnna, die bereits mit ihrem Mann Charlie an der Bar saß. Sie trugen beide imponierend schicke blaue Anzüge, er dazu eine einfarbig goldene Krawatte und sie eine einreihige Perlenkette. Sie arbeiteten beide seit einigen Jahren für die drittgrößte Wirtschaftskanzlei von Massachusetts. Annas Fachgebiet war geistiges Eigentum, und Charlie arbeitete in der Prozessabteilung.
    Das Martiniglas in ihrer Hand und die unveränderte Körbchengröße B ihrer Brust verrieten Alice, dass Anna nicht schwanger war. Sie versuchten nun schon seit einem halben Jahr ohne Erfolg und ohne ein Geheimnis daraus zu machen, ein Kind zu zeugen. Und für Anna galt wie bei allem in ihrem Leben: Je schwerer etwas zu bekommen war, desto mehr wollte sie es. Alice hatte ihr empfohlen, noch zu warten, es nicht so eilig zu haben, den nächsten größeren Meilenstein auf der Erledigungsliste ihres Lebens abzuhaken. Anna war erst siebenundzwanzig, sie hatte Charlie erst im letzten Jahr geheiratet, und sie arbeitete achtzig bis neunzig Stunden die Woche. Aber Anna hielt ihr genau das entgegen, was jede berufstätige Frau, die über Kinder nachdenkt, irgendwann begreift: Dafür gibt es eigentlich nie einen günstigen
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