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Mein Leben im Schrebergarten

Mein Leben im Schrebergarten

Titel: Mein Leben im Schrebergarten
Autoren: Wladimir Kaminer
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der Biotoilette als »Rhabarber« deklariert. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was meine Vorgängerin Frau Pflaume mit diesen Blättern anstellte. Vielleicht hatte sie die Blätter als Toilettenpapier oder Verpackungsmaterial benutzt. In Russland gibt es meines Wissens keinen Rhabarber, und wenn doch, dann hat man ihn mit Sicherheit als nicht essbar eingestuft. Diese Blätter raubten uns nur den Platz im Garten, ich traute mich jedoch nicht, sie mit dem Gasbrenner des Nachbarn anzugehen. Günther Grass hatte auch Rhabarber im Garten, genau neben meinem. Er hatte ihn bereits geerntet und wahrscheinlich auch schon gegessen. Gekocht oder vielleicht gebraten? Ihn nach dem Sinn der Pflanze zu fragen, traute ich mich allerdings nicht. Er würde mich bestimmt auslachen. Auf jeden Fall schien Rhabarber hierzulande eine mysteriöse Rolle zu spielen, denn alle hatten diese Blätter in ihrem Garten. »Rhabarber ist gut. Rhabarber bringt Punkte«, hatte Frau Beere gesagt.
    Ich ging zu Frau Krause in den Straßenbahngarten. Zwischen uns hatte sich ein warmes, freundschaftliches Verhältnis aufgebaut. Wir verstanden uns gut, ihre Kinder und Hunde trampelten regelmäßig unseren Rasen nieder, und ich konnte sie alles fragen. Frau Krause saß vor ihrer Laube auf einer Bank und rauchte  American Spirit . Sie war melancholisch gestimmt. Neulich, so erzählte sie mir, hätte sie endlich Einblick in ihre Stasiakte bekommen. Jahrelang hätte sie auf diesen Augenblick gewartet, doch ihre Akte wäre dann die pure Enttäuschung gewesen. Vor allem enttäuschend fand Frau Krause, dass die Akte so kurz war. Alle ihre Freunde und Bekannten aus der DDR-Zeit hatten dickere Akten. Ihre Akte passte dagegen auf zwei DIN-A4-Blätter. Auf dem ersten stand ihr Name und ihre Hausanschrift. Auf dem zweiten berichtete ein Spitzel, der auf Frau Krause angesetzt worden war, dass sie zu doof sei, um eine ernsthafte Gefahr für den Aufbau des Sozialismus zu sein. Auch eine Anwerbung von Frau Krause durch die Stasi hielt der Spitzel nicht für ratsam. Diese völlig unspektakuläre, geradezu diskreditierende Akte hatte Frau Krause deutlich die Laune verdorben.
    Eine solche Szene erlebte ich nicht zum ersten Mal. Das Bemühen der Stasi, für jeden Bürger eine Akte anzulegen, führte dazu, dass das Lesen der eigenen Stasiakte nach der Wende zu einer Art Volkssport wurde, zu einem Wettbewerb, bei dem es in erster Linie darum ging, wer die dickere Akte hatte. Ein DDR-Bürger ohne Akte fühlte sich dagegen aus der Geschichte des eigenen Landes herausgeworfen, so als wäre er gar nicht dabei gewesen. Ich beruhigte meine Nachbarin nach Kräften und erzählte ihr, dass wir in der Sowjetunion auch alle Dissidenten waren, aber höchstens jeder Zehnte eine eigene Akte beim KGB hatte – schon allein wegen der Papierknappheit. Anschließend versuchte ich vorsichtig, unser Gespräch Richtung Rhabarber zu lenken. Ich fing von Weitem an.
    »Sag mal, Renate, magst du eigentlich Rhabarber?«
    Nicht nur alle Nachbarn, auch Frau Krause fand Rhabarber lecker. Sie verkochte die Stiele mit Zucker zu Kompott oder backte Rhabarberkuchen. Ich wusste bereits: Manche Leute aßen die Stängel sogar roh. In jedem Land gab es eine solche Pflanze, die alle Einheimischen lecker fanden, die aber dem Rest der Welt nicht schmeckt. Bei uns in der Sowjetunion war es die Vogelbeere. Es gab sie in Rot und Schwarz. Die schwarze war süß und saftig – eine elitäre Leckerei. Die volkstümlichere, weiterverbreitete Variante war die rote Vogelbeere. Sie war herb, trocken, sauer und schmeckte von jedem Baum anders. Man aß sie frisch, machte daraus Konfitüre oder Likör, aber vor allem benutzte man sie, um den begehrten Vogelbeerschnaps damit herzustellen. Man machte allerdings auch Kuchen damit und erzählte sich – genauso wie in Deutschland über den Rhabarber –, dass die Vogelbeeren enorm viel Vitamin C sowie andere lebenswichtige Substanzen enthielten, die ihren Verzehr für jeden Russen unverzichtbar mache.
    Es war eine Kunst, die Reife der Vogelbeere richtig einzuschätzen. Einerseits sollte sie so lange wie möglich am Baum bleiben, andererseits aber auch nicht zu lange. Ende September zogen alle Familien aus unserem Hochhaus samt den Nachbarn mit Tütchen los, um Vogelbeeren zu sammeln. Jeder hatte einen Lieblingsort, wo ihm die Beeren am besten schmeckten. Ich sammelte meine Vogelbeeren immer im Park hinter einem Gebäude des Kurschatow-Instituts für Kernspaltung. Dort schienen
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