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Mein Leben im Schrebergarten

Mein Leben im Schrebergarten

Titel: Mein Leben im Schrebergarten
Autoren: Wladimir Kaminer
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die sonst eher solipsistischen Gärtner der Kolonie kontaktfreudiger als sonst werden. Sie blieben immer öfter an einem fremden Zaun stehen, tauschten Erfahrungen aus und gaben einander Ratschläge, wie man die Kommission überlisten und die Prüfung besser bestehen könne.
    »Keine Angst vor Bürokraten!«, rief Günther Grass. »Sie sagen einem sowieso nie etwas ins Gesicht. Zuerst schreiben sie nur einen Brief.«
    »Rhabarber bringt Pluspunkte, den Rhabarber müssen Sie ernten«, empfahl mir Frau Beere. Ihr Garten befand sich am anderen Ende der Straße, aber gelegentlich besuchte sie Günther Grass, um mit ihm Widerstandsstrategien durchzugehen. Auch Frau Beere hatte mit einer unerlaubten Zwischenhecke gegen das Gesetz verstoßen. Im Grunde sind alle Gärtner Verbrecher, wenn man sie nur streng genug nach dem Bundeskleingartengesetz in die Zange nimmt, überlegte ich. Dieser Gedanke beruhigte mich etwas.
    Frau Beere erzählte mir, dass es hier früher zwei Schrebergartenkolonien gegeben habe – »Glückliche Hütten I« und »Glückliche Hütten II«, jede mit einem eigenen Vorstand und einer eigenen Prüfungskommission. Die eine Kolonie befand sich in der DDR und die andere in der BRD. Die Bewohner der »Glücklichen Hütten I« durften damals keine Leitern im Garten besitzen, die höher waren als ein Meter zwanzig, und wegen der Fluchtgefahr durften sie auch nicht zu tief graben. Alle größeren Erdarbeiten waren verdächtig. Dafür versuchten die Bewohner von drüben, aus den »Glücklichen Hütten II«, ihnen aus Mitleid die halbe Apfelernte zukommen zu lassen. Nach dem Fall der Mauer vereinigten sich die beiden Gartenkolonien unter einem einzigen Vorstand, aber die Mauer in Köpfen ist natürlich geblieben. So gehen die Gärtner aus den »Glücklichen Hütten I« so gut wie nie in dem Vereinscafé der »Glücklichen Hütten II« ein Bier trinken und umgekehrt.
     
    Je mehr neue Kolonisten ich kennenlerne, desto stärker fällt mir auf, dass sie mit wenigen Ausnahmen alle merkwürdige Gurkennamen tragen. Genauer gesagt: Obst- und Gemüse-Namen. Das erinnert mich an das alte kommunistische Märchen von der kleinen Zwiebel, die sich gegen die Macht von Kirschen und Zitronen erhob und eine Gartenrevolution anzettelte. Dieses Märchen, das ich als Kind oft und gerne gelesen hatte, wurde nun in den wiedervereinigten »Glücklichen Hütten« Realität.
    Herr Kern, mein Nachbar von gegenüber, zeigte mir, wie man den Weg draußen vor dem Zaun von Unkraut befreit. Er lieh mir eine speziell dafür konstruierte Hacke, die in dem Werkzeugarsenal, das wir mit dem Garten übernommen hatten, nicht vorhanden war. Man musste mit diesem Gerät einen ein Meter breiten Streifen Erde vor dem Gartenzaun unkrautfrei bekommen und einen kleinen Todesstreifen anlegen. Eigentlich ein Job von fünf Minuten. Herr Kern verbrachte eine gute Stunde vor seinem Gartentor.
    »Den Rest brenne ich morgen mit dem Gasbrenner aus, ich habe da so einen Brenner in der Laube«, murmelte er.
    »Was für einen Rest? Ihr Streifen sieht doch wie geleckt aus!« Ich verstand ihn nicht.
    Herr Kern wollte die Unkrautwurzeln, die sich möglicherweise noch tief in der Erde versteckt hielten, mit seinem Gasbrenner verkohlen. Sonst könnte es ja passieren, dass sie in einem oder in zwei, drei Jahren wieder hochkamen. Ein Gärtner mit Seele. Er bekämpft nicht nur die sichtbaren, sondern auch die unsichtbaren, quasi gar nicht existierenden Gefahren – für alle Fälle.
    Dieser Drang nach absoluter Sicherheit, den ich erst in Deutschland kennengelernt hatte, machte mich sprachlos. Sollte ich auch so handeln? In Russland ist man an so etwas nicht gewöhnt. Meine Landsleute ticken anders, sie sind abergläubische Fatalisten, sie glauben an die Macht des Schicksals, sie nehmen es, wie es kommt. Und deswegen explodieren in Russland AKWs, Züge entgleisen, Flugzeuge stürzen ab. Hier dagegen fahren sogar korpulente vierzigjährige Männer wie Herr Kern mit Helm, Brille und Knieschützern Fahrrad. Sollte ich jemals gefragt werden, was aus meiner Sicht typisch deutsch sei, würde ich sagen: mit einem Gasbrenner unsichtbare Unkrautwurzeln verkohlen, mit Helm Fahrrad fahren und eine Vollkaskoversicherung fürs Leben anstreben, das ist typisch deutsch. Und natürlich Rhabarber essen.
    Bevor ich hierherzog, hatte ich keine Ahnung, wie Rhabarber schmeckte, wie er aussah und wozu er gut sein sollte. In der Gartenbeschreibung waren ein paar riesengroße grüne Blätter neben
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