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Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)

Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)

Titel: Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
Autoren: Jodi Picoult , Samantha van Leer
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Mann auf dem Schlachtfeld, in den wütenden Klauen des Drachen. »Bitte«, rief sie. »Rettet ihn!«
    Die Feen blickten einander bestürzt an. Das Kind lag still auf dem Kissen und regte sich nicht. Bereits bei vielen Geburten, bei denen sie zugegen gewesen waren, hatten sie vergeblich auf den ersten Atemzug des Kindes gewartet. Die dritte Fee verzichtete darauf, dem Neugeborenen wie vorgesehen Mut zu verleihen. »Ich schenke ihm Leben«, sagte sie, und das Wort ergoss sich als gelber Wirbel von ihren Lippen auf ihre Handfläche. Mit einem Kuss blies sie es in den Mund des Säuglings.
    Im Königreich geht die Legende, dass Prinz Oliver in eben jenem Augenblick, als König Maurice im Todeskampf aufschrie, seinen ersten Schrei tat.
    Es ist nicht leicht, ohne Vater aufzuwachsen. Bis zum Alter von sechzehn Jahren hatte Prinz Oliver nie wirklich Kind sein dürfen. Anstatt Fangen zu spielen, hatte er siebzehn Sprachen lernen müssen. Anstatt Gutenachtgeschichten zu lesen, hatte er die Gesetzbücher des Königreichs auswendig lernen müssen. Oliver liebte seine Mutter, aber so sehr er sich auch anstrengte, er würde nie so werden, wie sie ihn gern gehabt hätte. Manchmal hörte er, wie sie in ihrer Kammer mit jemandem sprach, aber wenn er eintrat, war sie allein. Wann immer sie sein schwarzes Haar und seine blauen Augen betrachtete und bemerkte, wie groß er geworden war und wie sehr er seinem Vater ähnelte, war sie den Tränen nahe. Soweit er es beurteilen konnte, gab es jedoch einen entscheidenden Unterschied zwischen ihm und seinem heldenhaften verstorbenen Vater: Mut. Oliver war klug und treu, aber was die Tapferkeit betraf, eine einzige Enttäuschung. Um seine Mutter glücklich zu machen, versuchte Oliver seine ganze Jugendzeit hindurch, sich bei allem anderen besonders hervorzutun. Jeden Montag hielt er Gericht, damit die Bauern ihre Zwistigkeiten vorbringen konnten. Durch ein von ihm erdachtes Fruchtfolgesystem waren die Vorratskammern im Königreich stets prall gefüllt, sogar in den härtesten Wintern. Zusammen mit Orville, dem Zauberer des Königreichs, entwickelte er eine hitzebeständige Rüstung für den Fall, dass es wieder zu einem Drachenangriff kommen sollte (auch wenn er vor Angst fast in Ohnmacht fiel, als er zu Testzwecken mit der Rüstung durch ein Lagerfeuer laufen musste). Mit sechzehn Jahren war er im besten Alter, den Thron zu besteigen, doch weder seiner Mutter noch seinen Untertanen war es eilig damit. Und wie konnte er es ihnen verübeln? Ein König beschützte sein Reich. Doch Oliver war überhaupt nicht erpicht darauf, in die Schlacht zu ziehen.
    Er kannte natürlich den Grund dafür. Sein eigener Vater war mit dem Schwert in der Hand gestorben; Oliver zog es vor, am Leben zu bleiben, und bei diesem Vorhaben waren Schwerter eher hinderlich. Es wäre alles anders gewesen, wenn sein Vater da gewesen wäre und ihm das Fechten beigebracht hätte. Aber seine Mutter ließ ihn nicht einmal ein Küchenmesser anfassen. Olivers einzige Erinnerung an so etwas wie körperliche Gewalt war, als er im Alter von zehn Jahren mit seinem Freund Figgins, dem Sohn des Hofbäckers, auf dem Schlosshof gespielt hatte, sie würden gegen Drachen und Piraten kämpfen. Aber dann war Figgins auf einmal fort gewesen. (Insgeheim vermutete Oliver, dass seine Mutter das eingefädelt hatte, damit er nicht einmal mehr so tun konnte, als würde er kämpfen.) Danach hatte Oliver eigentlich nur noch einen Freund gehabt, einen streunenden Hund, der am selben Nachmittag auftauchte, als Figgins verschwand. Frump, so hieß der Hund, war zwar ein prima Gefährte, aber Fechten konnte Oliver mit ihm nicht üben. Und so wuchs Oliver mit einem großen Geheimnis auf: Im Grunde war er sogar froh darüber, dass er nie in die Schlacht geritten war oder sich in einem Turnier gemessen oder auch nur jemanden bei einem Streit geschlagen hatte …, weil er sich nämlich tief im Innern schrecklich davor fürchtete.
    Dieses Geheimnis ließ sich jedoch nur bewahren, solange Frieden herrschte. Die Tatsache, dass der Drache, der seinen Vater getötet hatte, sich hinter die Berge zurückgezogen und seit sechzehn Jahren nicht gerührt hatte, hieß nicht, dass er nicht zurückkehren würde. Und wenn das passierte, halfen weder die auswendig gelernten Gesetze noch die Sprachen, die Oliver beherrschte, sofern er ihnen nicht mit scharfer Klinge Nachdruck verleihen konnte.
    Eines Tages, als sich der Gerichtstag dem Ende zuneigte, begann Frump zu bellen.
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