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Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)

Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)

Titel: Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
Autoren: Jodi Picoult , Samantha van Leer
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brüllt Frump hektisch. »Alles auf die Plätze!« Dann saust er davon, um den Trollen beim Zerlegen der Brücke zu helfen, damit sie sie anschließend wieder aufbauen können.
    Ich schnappe mir Umhang und Dolch. Die Feen, die unsere Schachfiguren waren, stieben wie Funken auf und schreiben die Worte BIS SPÄTER in die Luft, bevor sie einen Lichtschweif hinter sich herziehend im Wald verschwinden.
    »Ja, und danke noch mal«, sage ich höflich und mache mich rasch zum Schloss auf, wo meine erste Szene spielt.
    Was würde passieren, frage ich mich, wenn ich mich verspäten würde? Wenn ich trödeln oder am Schlosstor stehen bleiben würde, um am Fliederbusch zu schnuppern, sodass ich beim Öffnen des Buches nicht auf meinem Posten wäre? Bliebe es dann unaufgeschlagen? Oder würde die Geschichte ohne mich anfangen?
    Versuchsweise gehe ich langsamer, lasse mir Zeit. Doch auf einmal werde ich vorne am Wams wie von einem Magneten durch das Buch gezogen. Die Seiten rascheln, als ich von einer zur nächsten springe, und bei einem verwunderten Blick nach unten stelle ich fest, dass sich meine Beine wie im Zeitraffer bewegen. Ich höre Socks in seiner Box in den königlichen Stallungen wiehern, und das Platschen der Meerjungfrauen, die wieder ins Meer tauchen, und plötzlich stehe ich auf meinem vorbestimmten Platz, vor dem Königsthron in der Großen Halle. »Wurde auch Zeit«, grummelt Frump. Einen Augenblick später wird es über uns leuchtend hell, und anstatt wie üblich wegzusehen, richte ich dieses Mal den Blick nach oben.
    Ich kann das Gesicht der Leserin sehen – an den Rändern ein bisschen unscharf, so ähnlich wie die Sonne vom Meeresboden aus. Und genau wie beim Anblick der Sonne bin ich wie hypnotisiert.
    »Oliver«, zischt Frump. »Konzentration!«
    Also wende ich mich von diesen Augen ab, die exakt die Farbe von Honig haben; von diesem Mund, dessen Lippen ein ganz klein wenig geöffnet sind, als würde sie gleich meinen Namen aussprechen. Ich drehe mich weg, räuspere mich und spreche zum hundertmillionsten Mal die ersten Zeilen meines Textes.
    »Wen soll ich retten?«
    Ich habe die Zeilen, die ich spreche, nicht selbst geschrieben, sondern sie irgendwann einmal bekommen, wann, weiß ich schon lange nicht mehr. Mein Mund formt die Wörter, ihr Klang jedoch entsteht im Kopf des Lesers, nicht in meiner Kehle. In ähnlicher Weise spielen sich sämtliche Bewegungen, die wir wie in einem Theaterstück vollführen, irgendwie in der Fantasie einer anderen Person ab. Es ist, als würden die Handlungen und Geräusche auf unserer winzigen Bühne von weit weg in die Gedanken der Leser übertragen. Das habe ich, glaube ich, nicht irgendwann einmal herausgefunden, sondern schon immer gewusst, genauso wie ich weiß, dass die Farbe, die das Gras hat, grün ist.
    Ich lasse mir von Rapscullio vormachen, er sei ein Edelmann aus einem fernen Land, dessen geliebte Tochter entführt worden ist. Weil ich seinen Monolog schon so oft gehört habe, murmle ich ihn manchmal leise mit. Natürlich hat er in der Geschichte eigentlich gar keine Tochter. Er stellt mir nur eine Falle. Aber das darf ich jetzt noch gar nicht wissen, auch wenn ich diese Szene schon unzählige Male gespielt habe. Während er mir also dieselbe alte Leier von den anderen Prinzen erzählt, die Seraphima nicht retten wollen, schweifen meine Gedanken zu dem Mädchen, das unsere Geschichte liest.
    Ich habe sie schon einmal gesehen. Sie ist anders als unsere üblichen Leser, die entweder ältere Damen sind wie Königin Maureen oder Kinder, die man mit Geschichten über Prinzessinnen in Gefahr noch begeistern kann. Aber diese Leserin sieht aus, als wäre sie tatsächlich etwa in meinem Alter. Das kann eigentlich nicht sein. Sie weiß doch sicher – so wie ich –, dass Märchen nur erfundene Geschichten sind. Dass es in Wirklichkeit kein Happy End gibt.
    Frump trippelt über den schwarz-weißen Marmorboden, und als er schlitternd neben mir stehen bleibt, wedelt er heftig mit dem Schwanz.
    Plötzlich höre ich eine Stimme – entfernt, wie durch einen Tunnel, aber trotzdem klar und deutlich: »Delilah, ich sage es dir jetzt schon zum dritten Mal … wir werden zu spät kommen!«
    Von Zeit zu Zeit passiert es, dass ich Leser reden höre. Normalerweise lesen sie nicht laut, aber manchmal unterhalten sie sich, während das Buch aufgeschlagen ist. Weil ich ein guter Zuhörer bin, habe ich eine Menge daraus gelernt. » Ab in die Flohkiste« ist offenbar ein gängiger
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