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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Peter Sloterdijk
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setzten sie sich durch, und die Spiele verschwanden. Heute ist es nicht das Christentum, das den Spielen zusetzt, sondern die Gesundheitsreligion und ihre Ärzte-Priesterschaft, aber der Effekt ist der gleiche. Deutschland steht heute im Zentrum der neuen Reaktion gegen die Spiele. Ein Land, in dem nicht mehr gedopt werden darf und wo alle Sportler hygienische Protestanten werden müssen.
    Spiegel: In Italien und Spanien hält man nicht viel vom deutschen Anti-Doping-Kampf.
    Sloterdijk: Dort gehört die katholische Tradition der fröhlichen Selbstzerstörung zur Volkskultur. Die Italiener können es einfach nicht fassen, daß da oben im Norden schon wieder protestantische Barbaren ihr Unwesen treiben. Die glauben im Ernst, wir sind verrückt geworden. Doch Italiener und Spanier sind Angehörige einer Kultur, in der die Abspaltung des Scheins vom Sein zur populären Metaphysik gehört. Die Deutschen, speziell die protestantischen, wollen dagegen die Wörter und die Dinge wieder zur Deckung bringen. Wir sind, glaube ich, die einzige Nation auf der Welt, wo man an ehrliche Neuanfänge glaubt. Wir bleiben unberechenbar, 1945 wurden wir demokratisch, 2007 dopingfrei.
    Spiegel: Ein Neuanfang ist nicht möglich?
    Sloterdijk: Man muß eher mit einem endlosen Fortgang der Malaise rechnen, folglich mit einem allmählichen Ruin der Sportidee überhaupt. Mitten in dem weltweiten Körperboom spürt doch jeder, daß da etwas zu Ende geht. In fast allen Disziplinen sind die Rekorde in den physiologischen Grenzbereich vorgestoßen. Bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking erfolgt der größte Aufmarsch der Gedopten, seit der erste Mensch einen Stein schleuderte. Doch der Verdacht frißt alles an, zuletzt sogar die Freude an den Siegen der eigenen Landsleute – die nach wie vor den Schlüsselaffekt für die Anteilnahme an Sportereignissen liefert.
    Spiegel: Die besten Brüste, die wir sehen, sind gemacht. Die stärksten sexuellen Höchstleistungen sind durch Viagra befeuert. Warum regen wir uns über Sportler auf, die Vergleichbares tun?
    Sloterdijk: Das hat einen klar benennbaren Grund: Der Sport verhält sich zum Alltag wie das Heilige zum Profanen. Er bildet eine Modellwelt, in der sich alles, was man aus der Durchschnittswelt kennt, in einer höheren Verdichtung darstellt. Hier gelten dieselben Werte wie anderswo, aber eben in Reindarstellung. Deswegen ist dort der Gedanke der reinen Leistung bedeutsamer als überall sonst. In der Grauzone des Normalen ist der Betrug normal, in der Modellwelt muß er verpönt sein. Diese von klaren Regeln umrahmte Sonderwelt ist von sich her als künstliche Sphäre reiner Leistung verfaßt, und deswegen steht sie unter einem besonderen Auftrag. In ihr feiert die meritokratische Gesellschaft ihre Grundsätze. Sie ist darum, wenn man so will, eine immanent transzendente Zone. Sportler können keine Heiligen und keine Priester sein, aber sie müssen wenigstens als Heldendarsteller etwas taugen – und wenn sie das nicht mehr wollen oder können, dann sind sie wie alle übrigen – und wir können sie auf Hartz IV schicken.
    Spiegel: War das jahrzehntelange Lügen der Radsportwelt also eigentlich sinnvoll, um die Transzendenz zu erhalten?
    Sloterdijk: Der Radsport ist auch hierin strukturell katholisch: ohne Heuchelei nicht überlebensfähig. Eine Reformation der Tour de France bleibt unvorstellbar, weil man dann lauter Ernüchterte auf die Piste schicken würde, das wäre der Natur des Ereignisses nicht gemäß. Die Tour ist einer der wenigen Mythen des 20. Jahrhunderts, der bis vor kurzem noch halbwegs funktionierte.
    Spiegel: Deutsche Radsport-Teams versuchen, den Sport zu säubern. Geht das?
    Sloterdijk: Rolf Aldag wurde im vergangenen Jahr mit einem Bonmot zitiert: Man sollte diesmal den letzten drei die Medaillen geben. Das drückt eine ziemlich tiefe Einsicht in die moralische Situation der Tour aus. Nur: Wenn die Letzten die Ersten sein sollen, dann treiben wir nicht mehr Sport, sondern eine Barmherzigkeitsübung. Aus Niederlagen Siege zu machen ist und bleibt eine kulturell unwahrscheinliche Operation. In Italien hat man die Bestrebungen der Deutschen mit einem maoistischen Umerziehungslager verglichen, durch das die geständigen Fahrer hindurchgegangen seien.
    Spiegel: Es gab in der Bundesrepublik lange die Illusion, daß nur die anderen, die Russen, die DDR , die Amerikaner dopingmäßig die Bösen sind.
    Sloterdijk: Die Chemisierung der Gesellschaft ist ein globales Phänomen – und
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