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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Peter Sloterdijk
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von Gabriel Tarde über die Hochzeitsreisekleider der Damen von Beaune vorzustellen, in dem der Frage nachgegangen würde, auf welchen imitativen Strahlen die neuen Schnitte ins Rhônetal gelangten – leider spricht die Chronologie dagegen, Tarde hat im Jahr 1904 das Zeitliche gesegnet, und Bruno Latour, der glühendste Tardianer unserer Tage, muß auf den virtuellen Kommentar des Meisters zu dem Kleid seiner Mutter verzichten, sosehr uns dieser unter soziologischen Aspekten unentbehrlich scheint.
    Ersatzweise möchte ich die Überlegung beisteuern, daß um 1930 die kubistische Revolution des Sehens, mit der die bildende Kunst der Moderne im engeren Sinn begonnen hatte, längst in die Alltagskultur übergesprungen war. Nicht zuletzt hatte die weibliche Mode der zwanziger Jahre den Kubismus rezipiert und widmete sich der Herausforderung, die moderne Frau mit Hilfe von ungewohnten Schnitten in Würfel, Säulen und Tetraeder zu verwandeln – als wolle sie den Satz einüben: zum Frau-Sein in unseren Tagen gehört die Fähigkeit, Designer- Abstraktionen von der Weiblichkeit zu tragen. Wie dem auch sei, Monsieur Latour gefällt, was er sieht, er findet auch nicht-kubistische Zugänge zu Madame – und, was das Entscheidende ist: er findet sie über lange Jahre hinweg, ja über Jahrzehnte. Kurzum, die Botschaft des Bildes ist evident: Wer sich für das Phänomen Latour interessiert, sollte es nicht versäumen, über das Problem der Dauer nachzudenken, nicht so sehr über jene Dauer, die der große Henri Bergson unter dem anregenden Begriff der durée zur Debatte gestellt hat, sondern über die Dauer, durch die sich manche burgundische Ehen auszeichnen.
    Meine Damen und Herren, nun muß ich um Ihre Nachsicht dafür bitten, daß ich der Versuchung nicht widerstehen kann, noch einmal auf den virtuellen Roman zurückzukommen, der über das tiefe Frankreich von damals geschrieben werden könnte. Ich weiß nicht, ist es ein gutartiger, ist es ein boshafter Geist, der mir einflüstert, es müsse in dem burgundischen Epos eine Szene geben, die von der philosophischen Erleuchtung eines jungen Mannes aus Beaune handelt. Nehmen wir an, der junge Mann sei sechzehn, siebzehn Jahre alt – das ist das Alter, in dem sich die erwachende Intelligenz am meisten vor den Redensarten ekelt und am heftigsten Abstand nimmt von allem, was bloße Konvention und verklebte Üblichkeit ist.
    Darum kommt es vor, daß er sich an manchen Abenden in Gesellschaft seltsam benimmt: Als einmal ein Besucher aus Paris im Hause Latour bei Tisch den biederen Römerspruch zitiert: in vino veritas , springt der junge Mann wütend auf und verläßt den Speisesaal, indem er die Tür hinter sich laut zuschlägt. Marx hat er noch nicht gelesen, aber was Produktionsverhältnisse sind, weiß er schon sehr genau. Er kann die Phrasen von Positivisten nicht mehr ertragen, die Resultate von komplizierten Verfahren wie Naturobjekte nehmen – er weiß also, es müßte heißen: in vinificatione veritas , doch soviel kann man von Parisern, von Angebern, von Etikettenfetischisten nicht verlangen. Nehmen wir weiter an, der junge Mann liebe es, Ausflüge zu machen und sich gelegentlich im Schatten patinierter Mauern niederzulassen.
    Nehmen wir zusätzlich an, ein solcher Ausflug führe ihn zu der kleinen romanischen Kirche von Montcombroux, die um das Jahr 1000 errichtet wurde, einen Ort, den er auch in seinen Mannesjahren noch frequentieren wird. Er hat sich vor der Außenmauer des Gebäudes auf eine Steinbank gesetzt und denkt nach – er denkt nach auf eine Weise, wie es nur den jungen Hochbegabten widerfährt, in deren Selbstgespräch noch über den allgemeinsten und scheinbar klarsten Sätzen ein hoher Himmel von ungesagten Dingen steht, die auf Artikulation drängen.
    Was nun folgen soll, stellt an die Kunst des Romanciers nicht ganz alltägliche Anforderungen. Er müßte zeigen, wie der junge Mann eine Art von Erleuchtung erlebt, deren Nachklang seine weitere Existenz begleitet. Die Szene wäre literarisch anspruchsvoll, weil sie genau der von Sartre in seinem Roman La nausée geschilderten Erleuchtung seines Helden Roquentin im öffentlichen Park einer nordfranzösischen Provinzstadt entsprechen müßte – mit dem wesentlichen Unterschied, daß hier nicht eine Kastanienbaumwurzel im Zentrum der Vision stünde, sondern ein Stück Holz von einem alten Rebstock, das am Boden liegt und zufällig ins Blickfeld unseres Helden fällt. Das Kunststück bestünde darin, Sartre im
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