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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Peter Sloterdijk
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folgen. Mitterrand wahrt die Form, er resigniert im stillen, da er keine Alternative sieht. Er hat eingesehen, daß die Zukunft vom Wettbewerb der Volkswirtschaften diktiert wird – der sogenannte Neoliberalismus ist selbst eine Antwort auf die Tatsachen des erweiterten Wettbewerbs, nicht deren Erfinder. Die neuen Forderungen nach dem Sozialismus in einem Land waren aus dem Stoff gemacht, aus dem die Fabeln sind.
    Seither ist Frankreich gespalten in eine Fraktion, die bereit ist, den Geboten der Lage zu genügen, und eine linkskonservative Strömung, die gegen Wind und Wetter den Sonderweg in einen Sozialismus mit französischem Antlitz weitergehen möchte.
    Wie könnte Frankreich wieder zu der Leuchtturm-Nation werden, die Chevènement im kollektiven Begehren neu aufrichten will? Wie sollte sich das Land von seiner Konfusion erholen, die aus dem Zerfall seiner Nachkriegsillusionen folgt? Eine Wiedererhebung Frankreichs ist von heute aus gesehen ebenso unwahrscheinlich wie die libération aus der Sicht von 1940. Wer soll diesmal das Wunder bewirken und für die müde Nation den Kopf hinhalten? Die Deutschen, indem sie Frankreich freiwillig den Vortritt lassen? Die Russen, indem sie sich mit den Franzosen zusammentun, um das deutsche Übergewicht zu neutralisieren? Ganz unverhohlen spekuliert Chevènement mit beiden Optionen, ja, ungeniert gibt er sich Phantasien über die Einbeziehung Rußlands in die Europäische Gemeinschaft hin.
    Es ist unmöglich, dieses Buch zu lesen, ohne die Gegenwart eines dem Autor unerträglichen Gedankens zu spüren. In den Pausen seines hypnotischen Plädoyers flüstert ein Dämon ihm ins Ohr: La France est une passion inutile .

Ein Interview
    Spiegel: Herr Sloterdijk, Sie haben vor zwei Jahren den Mont Ventoux mit dem Rad erklommen, einen der mythischen Berge der Tour de France und 1900 Meter hoch. Warum?
    Sloterdijk: Vielleicht um zu beweisen, daß Herren um die 60 noch nicht ganz zum alten Eisen gerechnet werden müssen. Die Beweisnot war akut: Man ist ja mit einem intuitiven Bild seiner Gesamtlebensspanne ausgestattet, und trotz des angeborenen Leichtsinns, der uns hilft, die ablaufende Zeit nicht immer wahrzunehmen, gibt es Zäsuren, an denen man meint zu spüren, wie es im freien Fall dahingeht. 60 zu werden ist so eine Zäsur.
    Spiegel: Und waren Sie gedopt?
    Sloterdijk: Keine Spur, mein holländischer Freund und ich haben uns so viel Zeit gelassen, daß der sportliche Wert des Unternehmens nicht übertrieben hoch zu veranschlagen war, viel niedriger jedenfalls als bei Sportlern, die immer am Limit und ohne Absteigen hochfahren.
    Spiegel: Wie lange haben Sie gebraucht?
    Sloterdijk: So um die zweieinhalb Stunden. Man muß wissen, daß der Mont Ventoux eine sehr bizarre abweisende Aura hat. Wenn man die Vegetationsgrenze erreicht, ist man plötzlich in einer lunaren Landschaft. Die Rennradfahrer spüren davon natürlich nicht viel, weil sie vor Anstrengung blind sind. Wir Amateure waren am letzten Aufstieg so phänomenal langsam, daß man ständig diese todeszonenhafte Stimmung des Gipfelbereichs gespürt hat. Wenn man dann auch noch an dem Denkmal für den armen Simpson vorbeifährt, der da 1967 kurz vor dem Gipfel verendete, ist man schon ziemlich demoralisiert und denkt für ein paar Sekunden über die Sinnhaftigkeit des Unternehmens nach.
    Spiegel: Warum ist Radfahren Ihr Sport geworden?
    Sloterdijk: Eher zufällig. Ich war früher mehr ein Läufer, aber ich habe mit der Zeit bemerkt, daß die Gelenke das nicht gern haben. Inzwischen hat sich meine Vorliebe fürs Radfahren so weit rumgesprochen, daß mir Kollegen zum Geburtstag ein Gelbes Trikot geschenkt haben.
    Spiegel: Wie viel fahren Sie?
    Sloterdijk: Da kommen in einem Sommer schon ein paar tausend Kilometer zusammen. Radfahren bedeutet für mich eine Rückkehr zu dem alten Savannen-Adam, der bei der Jagd den ganzen Tag läuft und dabei immer high ist.
    Spiegel: Bekommt man auf dem Mont Ventoux ein Gefühl dafür, was ein Radprofi beim Erzwingen eines solchen Berges leisten muss?
    Sloterdijk: Es geht noch weiter: Man begreift, daß das, was diese Männer leisten, alles übersteigt, was Normalsterbliche begreifen können. Das erinnert fast an ein theologisches Studium: Man braucht den ersten Grad der Einweihung, um zu verstehen, daß man nichts versteht. Das Geistreichste, was je über die Tour geschrieben wurde, stammt von dem frühen Roland Barthes, der nicht zufällig eine regelrechte Theologie des Radsports entwickelt.
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