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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Peter Sloterdijk
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innersten Kreis seiner Stärke zu widersprechen. Bekanntlich erlebt Roquentin beim Anblick der Kastanienbaumwurzel eine Art von ontologischer Illumination – er spürt, wie sich die Materialität des Baums in den Vordergrund spielt, um den Betrachter mit dem Andrang der puren Existenz zu überschwemmen. Was sich für Sartres Held in der aufsässigen Präsenz der Baumwurzel enthüllt, ist das nackte Daß der Existenz. Von diesem Daß meint Roquentin unmittelbar zu erleben, daß es ein pures Zuviel ist – eine schwere und abscheuliche Zugabe zur schwebenden unverwirklichten Idee. Das wirkliche Vorhandensein der realen Sache stürzt auf den Betrachter ein wie ein prahlerischer, durch nichts zu rechtfertigender Überschuß, es bildet eine Überwältigung, die der Reinheit des Nichts die Besudelung durch die Existenz hinzufügt. Die Besudelung ergibt sich nicht zuletzt dadurch, daß dieses Zuviel, diese Schwere, diese Geilheit des gärenden Daseins sich auf beide Seiten verteilt, den Baum wie seinen Beobachter. Die Reaktion auf diese Enthüllung kann nur der Ekel sein, sofern dieser das Sich-Aufbäumen der Freiheit gegen das obszöne Eingetauchtsein in die unableitbare Faktizität zum Ausdruck bringt. »Es erdrückt mich«, sagt Roquentin, »überall dringt die Existenz in mich ein, durch die Augen, die Nase, den Mund.« Ihm wird klar, »daß es zwischen der Nicht-Existenz und dieser lustvollen Üppigkeit keinen Mittelweg gab. Wenn man existierte, so mußte man bis dahin existieren, bis zum Verschimmeln, bis zum Aufgeschwemmtsein, bis zur Schamlosigkeit.«
    Nun stelle ich mir vor, in dem burgundischen Roman wäre das präzise Gegenteil der Sartreschen Erleuchtung zu beschwören. Der Junge soll auf die Rebstockwurzel schauen und eine Lektion von völlig anderer Tendenz erfahren. Was sich ihm zeigt, ist nicht das nackte Daß dieser Wurzel da, scholastisch gesprochen ihre Quodditas. Was ihn ergreift, ist das Wunder ihrer Aktualität, die man in einer anderen Terminologie ihre Konkretheit nennen würde. Diese Aktualität ist völlig unabhängig von der Tatsache, daß ein Stück totes Rebstockholz, dürr und ausgezehrt, wie es zufällig vor der Mauer der Kirche liegt, den vitalen Wettbewerb mit der triumphalischen Fettleibigkeit der Kastanienwurzel von vorneherein verloren hätte. Was der Junge sieht, ist vielmehr die Unglaublichkeit des Sieges über die Unwahrscheinlichkeit, den das Aktuelle errungen hat, indem es dieses scheinbar beliebige Stück Holz in die Gegenwart stellte. Was er sieht, ist die Zusammenkunft der Bedingungen, die das Ding zu dem machen, was es ist. Das sind nicht bloß die Bedingungen der Möglichkeit, von denen die Philosophen reden, auch nicht die Bedingungen der Wirklichkeit, die Historikern zu denken geben, sondern die Bedingungen der Aktualität – die Bedingungen des Erfolges, die dieses Ding in seinem Streben nach dem Hier-und-Jetzt-Sein tragen.
    Später wird Latour dies die Bedingungen der Wohlgeratenheit nennen – conditions of felicity . Er erkennt in der trockenen Wurzel vor seinen Augen die Spitze einer ontologischen Erfolgsreihe. Er meint etwas zu sehen, was nicht weniger ist als eine Versammlung, die Zusammenkunft der zahllosen Partikel zu dieser Form, und in eins damit: die Wiederholung einer milliardenfach erprobten Form in dieser aktuellen Variation. Was ihn mit einer unwiderstehlichen Evidenz durchdringt, ist also nicht eine homogene Masse ohne Eigenschaften, es ist nicht der farblose und klebrige Teig der Existenz, die den Essenzen vorhergeht. Es ist die ungeheure Maschinerie der Wiederholungen, die all die zahllosen Qualitäten trägt und von der in diesem Augenblick ein einzelnes Werkstück, eine Wurzel, ein bedeutungsloses Stück Holz, so ausgezehrt wie wunderträchtig, eine Kostprobe bietet. Daher hat diese Offenbarung nicht wie bei Sartre die Klangfarbe der Obszönität, sie impliziert nicht die Herablassung zu der Gemeinheit, in der das Zuviel sich austobt, gleich, ob es in vor Dasein platzenden Kastanienbäumen oder in trägen Menschenkörpern erscheint. Die alternative Offenbarung legt in dem einzelnen Ding die Serie offen, zu der es gehört, sie macht den generativen Strom fühlbar, der in die ältesten Voraussetzungen der Entstehungen zurückverweist. Zwar setzt sie wie bei Sartre den Bruch der Dämme voraus, die das Subjekt von den Objekten trennen, aber anders als beim Denker des Ekels läßt sie die Existenz nicht wie eine eigenschaftslose und widerwärtige Lava
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