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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Peter Sloterdijk
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In seinem Essay über das Epos namens Tour de France findet man einen Passus, worin er den Mont Ventoux wie einen Gott des Bösen beschreibt, der Opfer fordert. Barthes setzt die Helden des Radsports mit den Kriegern Homers in der Ilias gleich. Für ihn wiederholt sich das Urduell zwischen Hektor und Achilles unter den Fahrern am Berg. In der Ebene kämpfen kann schließlich jeder, aber wer am schlimmsten Berg bis zuletzt zweikampffähig bleibt, ist schon darum Hektor oder Achilles.
    Spiegel: Barthes schreibt in diesem Essay aus dem Jahr 1957 bereits über Doping.
    Sloterdijk: In seinen Augen war das Doping unverzeihlich, weil es eine Profanisierung bedeutete. Barthes erbaute sich an der Vorstellung, daß die Kraft, mit der der Fahrer die schwersten Abschnitte meistert, nicht nur aus ihm selbst kommt.
    Spiegel: Sondern von den Göttern?
    Sloterdijk: Etwas in dieser Art, ja. Da soll ein numinoser Sprung passieren, wie man es zuletzt 2003 an Lance Armstrong auf der Pyrenäenetappe nach Luz Ardiden beobachten konnte, als sein Lenker bei einem Anstieg in der Plastiktüte eines Zuschauers hängenblieb, so daß er stürzte, elf Kilometer vor dem Ziel. Daraufhin geschah das, was Barthes ein halbes Jahrhundert zuvor den »Jump« genannt hatte. Ein plötzlicher Energiestoß, der Armstrong erlaubte, mit dem Zorn des Achilles noch einmal anzugreifen. Der trieb ihn zum Gipfel und an allen Konkurrenten vorbei.
    Spiegel: Armstrong war vielleicht gedopt?
    Sloterdijk: Wie alle übrigen, doch das spielte in dieser Szene keine wesentliche Rolle – der Jump war authentisch. Man versteht übrigens sehr gut, warum Barthes im Doping ein Sakrileg sah: Das war für ihn, als stehle man Gott das Vorrecht des Funkens. Daß Barthes letztlich recht hatte, hat man im vorigen Jahr bei der Tour de France grausam erlebt. Plötzlich ist der Schleier hochgezogen, und man sieht keine Kämpfer mehr, nur noch Radproletarier bei einem dubiosen Job. Die Poesie ist dahin, das Erhabene ist eingeebnet, die Fahrer sind plötzlich hundsgewöhnliche Berufstätige, sie leben nicht mehr in der Sphäre des Glanzes, sie sind nur noch Fachidioten für Sprinten, Rollen, Klettern. Noch ärger ist die Vulgarität, mit der ein früherer Tour-de-France-Sieger wie Bjarne Riis seine Enttarnung als Doper kommentierte: »Das Gelbe Trikot liegt in einem Pappkarton in meiner Garage. Ihr könnt es abholen.«
    Spiegel: Das tut Ihnen weh?
    Sloterdijk: So etwas hätte nie gesagt werden dürfen, das ist dänischer Nihilismus in Vollendung. So reden letzte Menschen bei der letzten Ungezogenheit. Der große Radfahrer von früher war ein Nietzscheaner in den Bergen gewesen, jemand, den man beobachtete, wie er die Schwerkraft besiegte und Übermensch wurde. Jetzt tritt der Pseudoübermensch als letzter Mensch auf und rülpst in alle Mikrofone. Selbst das Symbol seines größten Erfolges bedeutet ihm weniger als nichts. Es stellt sich heraus, daß es für ihn nie diese höhere Dimension gegeben hat, kein Ehrgefühl, kein symbolisches Mehr, kein Glanz, keine Spannung von oben – das Trikot nur ein sinnloser Fetzen. Wenn man die Ehrendimension des Sports und seine Symbole herabzieht, ist alles vorbei. Eine so dreckige Bemerkung aus dem Mund eines Fahrers zu hören, der einmal weit oben war, ist etwas vom Fürchterlichsten.
    Spiegel: Sie glaubten, Sie sehen Hektor und Achilles, unterstützt von den Göttern, und in Wahrheit waren es Bjarne Riis und Jan Ullrich, wahrscheinlich mit Epo im Blut. Sind Sie enttäuscht?
    Sloterdijk: Nicht wirklich. Seit ich selbst ein wenig Rad fahre, weiß ich, daß es wohl unmöglich ist, wenn ein Fahrer auf einer Bergetappe sechs Stunden lang eine Durchschnittsleistung von 280 Watt auf die Pedale bringt, mit Phasen von 450 Watt und mehr an den schweren Steigungen. Schon physiologisch geht das nicht ohne chemische Helfer. Wer die ausschalten will, schaltet letztlich die Idee der Spitzenleistung als solcher aus.
    Spiegel: Soll man das Doping freigeben?
    Sloterdijk: Es wäre plausibel und ist doch völlig unmöglich. Man hat die Wahl zwischen zwei Unmöglichkeiten, wie bei jedem starken Dilemma. Im Grunde erinnert die Situation im Radsport heute, und im Hochleistungszirkus überhaupt, daran, wie die frühen Christen den Römern die Freude an ihren grausamen Spielen verdorben haben. Mir scheint, man muß heute tatsächlich in so weiten Analogien denken. Der Widerstand der Christen gegen die römischen Spiele zog sich über mehrere hundert Jahre hin, doch zuletzt
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