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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
Autoren: Bill Bryson
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konsumierendes alkoholisches Getränk mit einer Krabbe darin war.
    Unsere Mahlzeiten bestanden immer aus Resten. Meine Mutter besaß einen schier unerschöpflichen Vorrat an Nahrungsmitteln, die schon einmal, manchmal sogar mehrmals, auf dem Tisch gewesen waren. Außer ein paar wenigen leicht verderblichen Milchprodukten war alles im Kühlschrank älter als ich, bisweilen um viele Jahre. (Ihr allerältester Essensbesitz war, das versteht sich fast von selbst, ein Früchtebrot aus der Kolonialzeit, das in einer Blechdose aufbewahrt wurde.) Ich vermute allerdings, dass meine Mutter die gesamte Kocherei in den vierziger Jahren erledigte, damit sie sich den Rest ihres Lebens mit dem überraschen konnte, was sie gut verpackt in den hinteren Regionen des Kühlschranks fand. Ich habe nie erlebt, dass sie Essen weggeworfen hat. Als Daumenregel galt offenbar, dass alles, bei dem man nicht zusammenzuckte und mindestens einen Schritt zurücktaumelte, wenn man den Deckel hob, für den Verzehr geeignet war.
    Meine beiden Eltern waren in der Weltwirtschaftskrise aufgewachsen und warfen nichts weg, wenn sie es nur irgend vermeiden konnten. Meine Mutter spülte auch stets die Pappteller, trocknete sie ab und strich benutzte Aluminiumfolie zur nochmaligen Verwendung glatt. Ließ man eine Erbse auf dem Teller, wurde die Bestandteil eines zukünftigen Mahls. Unser gesamter Vorrat an Zucker befand sich in kleinen Tütchen, die wir in tiefen Manteltaschen aus Restaurants schmuggelten, ebenso übrigens wie Marmelade, Kräcker (Oyster und Saltine), Remouladensoße, einiges von unserem Ketchup und unserer Butter, alle unsere Servietten und ganz gelegentlich einmal einen Aschenbecher; im Prinzip alles, was einen Restauranttisch zierte. Einer der glücklichsten Momente im Leben meiner Eltern war, als man auch Ahornsirup in kleinen Wegwerfpäckchen zu servieren begann und sie diese unseren Haushaltsvorräten hinzufügen konnten.
    Unter dem Spülbecken bewahrte meine Mutter eine enorme Kollektion von Gläsern auf, einschließlich einem, das unter dem Namen Pieselglas lief. »Pieseln« nannten wir in unserem Haus Pipi machen, und während meiner gesamten ersten Lebensjahre wurde das Pieselglas immer dann in Dienst genommen, wenn die Notwendigkeit, das Haus zu verlassen, mit der Notwendigkeit kollidierte, dass jemand noch schnell mal musste – und wenn ich »jemand« sage, dann meine ich natürlich das jüngste Kind, mich.
    »Ja, dann musst du aber ins Pieselglas machen«, sagte meine Mutter in diesen Fällen immer ein wenig gereizt und mit besorgtem Blick zur Küchenuhr. Es dauerte geraume Zeit, bis ich merkte, dass das Pieselglas nicht immer dasselbe Glas war. Insofern ich überhaupt darüber nachdachte, nahm ich wahrscheinlich an, dass das Pieselglas regelmäßig weggeworfen und durch ein frisches ersetzt wurde – schließlich hatten wir Hunderte von Gläsern.
    Sie können sich also meine Bestürzung, gefolgt von verschiedenen Stadien puren Entsetzens, vorstellen, als ich eines Abends zum Kühlschrank ging, um mir noch eine Portion Pfirsichhälften zu holen, und sah, dass wir alle aus einem Glas aßen, in dem noch vor ein paar Tagen mein Urin gewesen war. Ich erkannte das Glas sofort, denn an ihm klebte ein Z-förmiges Etikett, das mich unheimlich an das Zeichen von Zorro erinnerte – wozu ich ja auch noch eine fröhliche Bemerkung gemacht hatte, als ich das Glas mit meinem kostbaren Körpersaft füllte. Nicht, dass jemand zugehört hatte – natürlich nicht. Doch da war es nun und enthielt unsere Nachtischpfirsiche. Ich hätte nicht überraschter sein können, wenn man mir gerade ein Paket mit Fotos gegeben hätte, auf dem meine Mutter in flagranti mit, sagen wir, den Jungs von der Tankstelle zu sehen gewesen wäre.
    »Mom«, sagte ich, ging zur Esszimmertür und hielt meinen Fund hoch. »Das ist das Pieselglas.«
    »Nein, mein Schatz«, erwiderte sie, ohne zu zögern oder aufzuschauen. »Das Pieselglas ist ein ganz bestimmtes Glas.«
    »Was ist das Pieselglas?«, fragte mein Vater belustigt und löffelte sich einen Pfirsich in den Mund.
    »Es ist das Glas, in das ich piesele«, erklärte ich. »Und zwar das hier.«
    »Billy pieselt in ein Glas?«, fragte mein Vater schon mit einer gewissen Mühe, da er die Pfirsichhälfte, die er sich gerade in den Mund gesteckt hatte, bis zum Erhalt weiterer Informationen betreffs ihres jüngsten Aufenthaltsorts nicht zerkaute und hinunterschluckte, sondern auf der Zunge liegen ließ.
    »Nur ganz selten
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