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Mehr als ein Sommer

Mehr als ein Sommer

Titel: Mehr als ein Sommer
Autoren: Ann Eriksson
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finden sollte, würde ihm das Personal sicher wenigstens weiterhelfen können. Wieder schaute er auf seine Armbanduhr. Genau in diesem Moment stieß sein linker Fuß gegen etwas auf dem Boden, und bevor er sich versah, segelte er durch die Luft und hatte keine Zeit mehr sich mit den Armen zu schützen. Er landete mit so viel Wucht auf den Granitfliesen, dass es ihm die Luft aus den Lungen und die Brille von der Nase stieß. Er drehte sich auf die Seite, rollte sich zusammen und schnappte nach Luft, während die Welt um ihn her sich verdunkelte wie unter einem Umhang aus Nebel: der Menschenstrom, der sich um ihn herum teilte, die Sitzbänke, die Leute, die darauf saßen, die Hinweisschilder an den Wänden mit den Pfeilen Richtung Duty-free-shop und Toiletten. Farben und Formen verschmolzen wie bei einem Kind, das mit Fingerfarben malt, und seine Welt wurde zu einem verwaschenen Aquarell. Mit einer Hand tastete er nach seiner Brille und erschauderte, als er spürte, wie schmutzig der Boden war. Normalerweise trug er Kontaktlinsen, doch damit trockneten seine Augen auf langen Flügen aus, sodass er sie im Handgepäck verstaut hatte, zusammen mit seiner Unterwäsche zum Wechseln, seinem elektrischen Rasierapparat und seiner Zahnbürste. Eine Hand berührte seine Schulter, jemand drückte ihm seine Brille in die Hand und fragte besorgt auf Deutsch: »Ihre Brille?« Er setzte sie auf. Schlagartig hatte er den Frankfurter Flughafen klar im Blick. Er drehte sich auf den Rücken, blickte nach oben und sah, wie sich ein Sonnenstrahl seinen Weg durch ein Loch im ansonsten grauen Himmel gebahnt hatte. Durch eine hohe Reihe von Fenstern über der Halle strömte Licht herein und erhellte den höhlenartigen Raum. Vor diese Aussicht schob sich ein Kopf, ein Gesicht, das so alt und so faltig war, dass er sich fragte, ob er jetzt auch noch Halluzinationen hatte, denn um das uralte Gesicht der Frau leuchtete weißes Haar wie ein Glorienschein.

2

    Der Mann am Boden erinnerte Constance an ihren jüngsten Sohn Gregory. Es war weniger das Äußere — das Haar war dunkler und gewellt, die Nase länger, die Augenbrauen schmaler, die Haut heller. Doch hatte sein Gesicht den gleichen unschuldigen und verwirrten Ausdruck, der sich in Stress-Situationen auf die Züge ihres Sohnes legte. Das verfehlte niemals seine Wirkung und brachte ihren Mutterinstinkt zum Überschäumen. Sie widerstand dem inneren Drang, den Mann in die Arme zu schließen; stattdessen ließ sie sich auf ein Knie nieder und legte seine Hand in ihre. »Haben Sie sich verletzt?«, fragte sie. »Es tut mir so leid. Das war einzig und allein meine Schuld.«
    Er stieß ihre Hand weg und versuchte sich aufzusetzen, wodurch sie den Halt verlor und fast rücklings hingefallen wäre. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Ich muss meinen Flug erwischen.« Im nächsten Moment machte sich Panik auf seinem Gesicht breit. »Mein Gepäck. Wo ist mein Gepäck?«
    »Keine Sorge.« Sie drehte sich um und wies hinter sie beide, wo sein Koffer auf der Seite lag. »Das ist noch da. Damit hat sich keiner auf- und davongemacht. Wir werden Ihnen jetzt erst mal aufhelfen. Können Sie stehen?«
    Der Deutsche, der ihm die Brille zurückgegeben hatte, bot ihm den Arm, und so nahmen sie ihn zwischen sich und halfen dem Mann auf die Füße. Als der hilfsbereite Herr gehen wollte, rief Constance ihm nach: »Thank you — danke schön!« Sie dachte sich, dass der arme Knabe, der neben ihr stand, sicher zu erschüttert war, um noch höflich zu sein. Seine Kleidung war von dem schmutzigen Fußboden verschmiert, und Constance rieb an einem Flecken auf seinem Arm. »Einen so verdreckten Fußboden würde man in einem Land wie Deutschland gar nicht vermuten.«
    Der Mann wich zurück. »Lassen Sie das bitte sein. Ich muss wirklich los. Meine Maschine nach Nairobi geht jede Sekunde.« Er griff nach seinem Handgepäck.
    »Flug 2374?«, fragte Constance und war stolz, dass sie die Flugnummer behalten hatte. Wenn es um die richtigen Bezeichnungen von Dingen und um Nummern ging, war ihr Erinnerungsvermögen nicht mehr so gut wie früher. »Cairo Air. Frankfurt-Nairobi mit Zwischenstopp in Kairo?«
    Der Mann drehte sich um und sah sie an. »Was haben Sie da gerade gesagt?«
    »Flug 2374. Von Frankfurt nach Nairobi.«
    Aber der Mann hörte gar nicht zu. Er wühlte in seiner Jackentasche und zog sein Ticket hervor. Er schaute durch das Bündel Papiere, dann blickte er auf und sah sie an, als habe sie soeben ein Kaninchen
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