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Mehr als ein Sommer

Mehr als ein Sommer

Titel: Mehr als ein Sommer
Autoren: Ann Eriksson
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Aber jetzt, dachte sie zufrieden, fühlte sich das Fliegen schon völlig vertraut an. Sie hob ihre große Segeltuchtasche hoch, die ihre Freundin Iris ihr für die Reise geschenkt hatte. Die riesigen aufgestickten Sonnenblumen fand sie viel zu kitschig, aber sie hatte es nicht übers Herz gebracht, Iris das zu sagen. Und immerhin leistete sie hervorragende Dienste, auch wenn sie mit jedem Tag schwerer wurde. Constance bereute, ihr bestes Kostüm angezogen zu haben, was ihr am Vorabend, als es sorgsam über dem Stuhl in ihrem Hotelzimmer in der Innenstadt hing, angemessen vorgekommen war. Es war Martins Lieblingskostüm gewesen. Und ihre erste Reise nach Afrika war für sie ein festlicher Anlass. Afrika! Jedes Mal, wenn sie darüber nachdachte, begannen winzige Flugzeuge in ihrem Bauch zu kreisen, und sie konnte kaum mehr still sitzen. Im Moment fühlte sie sich jedoch zu beengt von der schmal geschnittenen Kostümjacke und sehnte sich nach ihrem Garten-Outfit: nach der alten Jogginghose und dem viel zu großen T-Shirt, das sie im letzten Jahr — seit sie allein lebte — immer getragen hatte. Ab und zu nahm sie neidvoll zur Kenntnis, wie lässig die jungen Leute reisten in ihren Jeans und den Schlabberpullovern. Das Kostüm würde für Nairobi viel zu warm sein, und sie würde so schnell wie möglich ihr Hotel finden und sich umziehen müssen. Ihre Füße hatten es aber bequem: Sie blickte nach unten auf die dunkelblauen, mit weiß abgesetzten Laufschuhe, die sie einen Monat zuvor in Paris erstanden hatte, nachdem sie stundenlang in ihren Pumps über die Champs-Elysees und an der Seine entlanggelaufen war. Die Blasen an den Außenseiten ihrer kleinen Zehen waren schon lange verheilt, und die gepolsterten Sohlen ihrer neuen Sportschuhe milderten die leichte Arthritis in ihrer linken Hüfte. Der Verkäufer in dem Geschäft hatte gesagt, die Schuhe seien in Korea hergestellt worden.
    Constance fand eine Bank, setzte sich und stellte die Tasche vor sich auf den Boden. Laut der Dame am Schalter von Cairo Air blieben ihr noch mehrere Stunden bis zum Abflug der Maschine. Sie musste sich eingestehen, dass sie trotz aller Aufregung im Hinblick auf Afrika erschöpft war von den letzten sechs Wochen Reisen, dem Besichtigen und davon, alle paar Nächte in einem anderen Hotel zu wohnen. Sie hoffte, dass sie im Flugzeug etwas Schlaf finden würde.
    Sie beugte sich vor und holte einen Kugelschreiber und eine Postkarte aus ihrer Tasche, auf der ein Foto von Michelangelos Statue des David aus den Uffizien in Florenz zu sehen war. Ein Meisterwerk, das sie fast einen ganzen Nachmittag in seinen Bann gezogen hatte. Liebe Susan, schrieb sie, dann hielt sie inne und hob den Kugelschreiber vom Papier, den Blick Richtung Decke. Was sollte sie ihrer Tochter nur schreiben? Mir geht es sehr gut und ich wünschte, Du wärest hier? Ihr ging es in der Tat sehr gut, doch sie war froh, dass ihre Tochter nicht hier war, und das, obwohl sie hin und wieder gerne jemanden bei sich gehabt hätte. Susan würde kein Verständnis haben für das, was sie hier tat; sie würde wollen, dass sie nach Hause käme. Constance hatte es bisher nicht geschafft, irgendeinem ihrer Kinder zu schreiben. Sie waren sicher schrecklich in Sorge, weil sie nicht wussten, wo ihre Mutter war. Sie drehte die Postkarte um und betrachtete das Foto des David. »Meine Güte, Martin«, sagte sie vor sich hin, »wie konnte ich nur jemals glauben, dass Susan an dieser Postkarte überhaupt Gefallen finden würde? Der Anblick seiner riesigen steinernen Genitalien würde sie nur erschrecken und peinlich berühren, nicht wahr?« Fast konnte sie sehen, wie Martin beipflichtend nickte und ihr dabei mit seinen feinen, schlanken Fingern über die Wange strich und dann lachte beim Anblick von Davids Kronjuwelen. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie faltete die Postkarte in der Mitte zusammen und warf sie in den Mülleimer neben der Sitzbank. Das war jetzt die sechste Postkarte an Susan, die sie weggeworfen hatte. Sie griff erneut in ihre Tasche und zog eine Zeitschrift heraus, blätterte sie durch, um sich von ihrem eigenen einsamen Selbst abzulenken, und entschied sich schließlich für einen Artikel mit dem Titel Büstenhalter bahnen sich den Weg in die Vorstandsetagen: Feminismus in den Achtzigerjahren.

    Trevor Wallace drängelte sich durch die Schlange aussteigender Passagiere. »Ich muss einen Anschlussflug erwischen«, brummte er halblaut und zog ratternd sein Handgepäck hinter sich
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