Meeresblau
das Indigo in deinen Tiefen“, zitierte Christopher und fühlte Sehnsucht aufklaffen. „Du salziges, ewiges Blau. Nimm, Meer, mir die Beine, denn sie zwingen mich an das Land.“
„Ja. Jacks Lied. Und ich habe Angst, dass es wahr wird.“
Ihm wurde flau im Magen. „Warum sagst du so was?“ Er hatte mit ihr niemals darüber geredet. Über seinen Zwiespalt, die Visionen und die mit jedem Tag heftiger brennende Unruhe. Dass sie ihn trotzdem durchschaute, hätte ihn nicht verwundern sollen.
„Ich habe dein Buch da gelesen.“ Jeanne griff nach dem Bildband, der neben ihr auf dem Bett lag. „Da war diese Geschichte. Eine Legende darüber, wie der erste Narwal entstand.“
Christopher nahm es entgegen und blätterte darin herum. Es war eine Sammlung indianischer Legenden, untermalt mit Bildern wilder Küsten, durch blaue Tiefen schwebende Wale und sturmgepeitschte Hochsee. Vor einigen Wochen hatte er dieses Buch zufällig in einem Laden entdeckt und verschlungen. Wieder musste er an die Meeresbiologin denken. Sie war halbindianisch. War das ein Zufall? Er betrachtete die Abbildung auf der aufgeschlagenen Seite. Auf dem Rücken eines Narwals, der schaumgekrönte Wellen durchmaß, lag ein Mädchen mit langem, schwarzem Haar.
„Du meinst den Krieger, der keine Ruhe fand? Der Mann, der seiner Liebsten nicht nahe sein konnte und sich von der höchsten Klippe aus ins Wasser stürzte, um zu ertrinken?“
„Ja“, antwortete Jeanne. „Aber die Götter hatten Erbarmen und verwandelten ihn in ein Einhorn.“
„In ein Einhorn des Meeres. Er wurde der erste Narwal.“ Christopher klappte das Buch zu und legte es zurück auf das Bett. „Das ist es, was mir an diesen Geschichten gefällt. Sie sehen den Ozean als Ort der vollkommenen Freiheit.“
Wieder wollte sich diese Leere in ihm einnisten. Er blickte aus dem Fenster. Die Dämmerung legte sich über die Küste. In diesem Licht sah es aus, als wollten Himmel und Wasser miteinander verschmelzen. Wellen vereinten sich mit Wolken, Gischt mit Nebel. Das Rauschen dort draußen war der Rhythmus, der die Welt seit Millionen von Jahren erfüllte und nach dem sich alles zu bemessen schien. Am Anfang war das Meer gewesen. Und dann lange Zeit nichts außer Wellen und Himmel und Salz.
„Chris?“ Jeanne zupfte an seiner Hose. „Lass nicht zu, dass ich dich verliere. Ich sehe doch, wie du mit jedem Tag ruheloser wirst. Wie du dich kaum noch losreißen kannst vom Strand und wie du dort hinausblickst. Als wolltest du dich ins Wasser stürzen wie der Mann aus der Geschichte.“
„Das würde ich nie tun“, flüsterte er. „Ich bin nicht lebensmüde.“
„Aber eines Tages passiert es vielleicht.“
„Was passiert?“
„Wenn du lange genug auf das Wasser starrst, wird es dich holen.“
„Unsinn.“ In einer liebevollen, beruhigend gemeinten Geste zerwühlte er ihr Haar, doch im Inneren fürchtete er sich. Letzte Nacht hatte er wieder die Stimmen gehört. Stimmen aus der Tiefe, die um Hilfe flehten. Er fragte sich, ob er Jeanne von den Visionen erzählen und ihr den Grund nennen sollte, warum er wirklich auf diese Expedition ging. Sollte er ihr sagen, dass es den gezackten Graben im Meeresboden wirklich gab, knapp sechzig Seemeilen vor der chilenischen Küste? Irgendwann, schwor er sich. Aber nicht heute Abend.
Jeanne fühlte sich frei, während sie lachend durch die Nacht rannten, Hand in Hand. Es war das herrliche Gefühl, alle Sorgen von sich abfallen zu spüren und nur noch zu leben. Mit allen Sinnen und gemeinsam mit ihm.
An diesem Abend war die Wolkendecke aufgerissen und hatte den Blick auf einen prachtvollen Sternenhimmel freigegeben. Hastig waren sie in ihre Wollmäntel geschlüpft, hatten sich eine Decke von der Ofenbank geschnappt und waren gemeinsam mit Finn in die Nacht hinausgerannt. Der Hund verschwand irgendwo hinter den Weiden, weshalb es mit Sicherheit wieder Ärger mit dem Schafzüchter geben würde, der ständig in der Furcht lebte, Finn könnte ein apokalyptisches Blutbad unter seinen Tieren anrichten.
„Du bist ja barfuß.“ Jeanne betrachtete Christopher kopfschüttelnd. „Wie hältst du das nur aus?“
„Du hast eben einen abnormalen Bruder.“
„Wohl wahr.“ Übermütig sprang sie in eine Pfütze aus geschmolzenem Schnee. Die Nacht war herrlich. Der klare Himmel brachte jene schneidende Luft mit sich, die den Winter ankündigte. Die Tage und Nächte der Eiszapfen, der haushohen Wellen und des Raureifs. Bald würden die Morgen kommen,
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