Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie
Autoren: Ray Bradbury
Vom Netzwerk:
er da im silbernen Licht stand, war er wirklich schön.
    »Das kann nicht sein«, sagte sie, »denn man hat mir gesagt, der Mond werde mich heilen.«
    »Und so wird es sein, Mädchen.«
    »Was für Lieder singen Sie?«
    »Lieder von Frühlingsnächten, namenlosen Schmerzen und Leiden. Soll ich dir sagen, wie dein Fieber heißt, Mädchen?«
    »Wenn Sie es kennen, ja.«
    »Zuerst die Symptome: fliegende Temperaturen, plötzliche Kälte, das Herz erst rasch, dann langsam, heftige Launen, dann süße Ruhe, Trunkenheit, obwohl du nur Quellwasser genippt hast, Schwindel, wenn man dich nur so berührt…«
    Er berührte ihr Handgelenk, sah sie in köstliches Vergessen hinübergleiten, und zog die Hand zurück.
    »Niedergeschlagenheit, Hochstimmungen«, fuhr er fort. »Träume…«
    »Halten Sie ein!« rief sie hingerissen. »Sie kennen mich ja in- und auswendig. Nun sagen Sie mir, wie mein Leiden heißt!«
    »Das will ich tun.« Er preßte seine Lippen auf ihre Handfläche, so daß sie plötzlich zitterte. »Der Name dieses Leidens ist Camillia Wilkes.«
    »Wie seltsam.« Sie erschauerte, und ihre Augen glänzten wie lila Feuer. »Also bin ich mein eigenes Gebrechen? Wie krank ich mich mache! Selbst jetzt – fühlen Sie mein Herz!«
    »Ich fühle es, so.«
    »Meine Glieder, sie brennen in Sommerhitze!«
    »Ja, sie versengen meine Finger.«
    »Aber jetzt, der Nachtwind, sehen Sie, wie ich vor Kälte bebe! Ich sterbe, ich schwöre es, ich sterbe!«
    »Ich lasse dich nicht«, sagte er ruhig.
    »Sie sind also ein Doktor?«
    »Nein, nur dein schlichter, dein gewöhnlicher Arzt, wie ein anderer, der heute erriet, was für ein Kummer dich bedrückte. Das Mädchen, das es hätte nennen können, lief in der Menge fort.«
    »Ja, ich sah es ihren Augen an, daß sie wußte, was über mich gekommen war. Aber jetzt klappern mir die Zähne. Und keine zusätzliche Decke!«
    »Bitte, mach mir Platz. So. Laß mich sehen: zwei Arme, zwei Beine, Kopf und Körper. Ich bin ganz hier!«
    »Wie bitte, Sir?«
    »Um dich vor der Nachtkälte zu schützen, natürlich.«
    »Wie ein Herd! Oh, Sir, Sir, kenne ich Sie? Ihr Name?«
    Sein Kopf war rasch über ihr und warf seinen Schatten auf den ihren. Seine fröhlichen Augen, klarem Wasser gleich, blitzten ebenso wie der weiße Elfenbeinschlitz seines Lächelns.
    »Nun, Bosco natürlich«, sagte er.
    »Gibt es nicht einen Heiligen dieses Namens?«
    »Ja, in einer Stunde wirst du mich so nennen.«
    Sein Kopf neigte sich dicht über sie. So in rußschwarzen Schatten gehüllt, weinte sie vor Freunde, als sie ihren Schornsteinfeger wiedererkannte.
    »Die Welt dreht sich! Ich vergehe! Das Heilmittel, lieber Doktor, sonst ist alles verloren!«
    »Das Heilmittel«, sagte er, »ist dies…«
    Irgendwo schrien Katzen. Ein Schuh, aus einem Fenster geschleudert, jagte sie vom Zaun. Dann war nur noch Stille und der Mond…
    »Pst…«
    Morgendämmerung. Mr. und Mrs. Wilkes schlichen auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und spähten in den Hof.
    »Zu Stein gefroren, tot, nach dieser schrecklichen Nacht, ich weiß es!«
    »Nein, Frau, sieh! Rosen auf den Wangen! Nein, mehr noch! Pfirsiche, Persimonen! Sie glüht wie Milch und Rosen! Die liebe Camillia, lebendig, wohlauf und wieder ganz!«
    Sie beugten sich über das schlummernde Mädchen.
    »Sie lächelt, sie träumt; was sagt sie?«
    »Die wundersamste Medizin«, seufzte das Mädchen.
    »Wie, was?«
    Sie lächelte wieder im Schlaf, ein helles Lächeln.
    »Eine Medizin«, murmelte sie, »für die Melancholie.«
    Sie öffnete die Augen.
    »Oh, Mutter, Vater!«
    »Tochter, Kind! Komm herauf!«
    »Nein.« Sie nahm zärtlich ihre Hände. »Mutter, Vater?«
    »Ja?«
    »Niemand wird es sehen. Die Sonne geht eben gerade auf. Bitte. Tanzt mit mir.«
    Sie wollten nicht tanzen.
    Aber dann taten sie es doch und feierten – sie wußten selbst nicht, was.

 
Das Ende vom Anfang
     
     
     
    Der ließ den Rasenmäher mitten auf dem Hof stehen, denn er spürte, daß die Sonne gerade in diesem Augenblick gesunken war und die Sterne herauskamen. Das frisch gemähte Gras, das ihm über Gesicht und Körper gerieselt war, welkte langsam. Ja, die Sterne waren da, zuerst noch schwach, aber dann leuchteten sie am weiten Himmel auf. Er hörte, wie die Verandatür geschlossen wurde, und spürte, daß seine Frau ihn beobachtete.
    »Es ist fast soweit«, sagte sie.
    Er nickte; er brauchte nicht auf die Armbanduhr zu sehen. In den jetzt verstreichenden Augenblicken fühlte er sich zuerst sehr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher