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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie
Autoren: Ray Bradbury
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passiert.«
    Er berührte mit der Hand sein Gesicht und blickte auf seine nassen Finger. »Verflucht«, sagte er. »Verflucht noch mal.«
    Sie warteten noch fünf und dann weitere zehn Minuten, bis die Dunkelheit im Kopf, in der Netzhaut, von Millionen glühenden Lichtpunkten schmerzte. Dann mußten sie die Augen schließen.
    »Komm«, sagte sie. »Wir wollen hineingehen.«
    Er war unfähig, sich zu bewegen. Nur seine Hand streckte sich ganz von allein weit aus und suchte den Griff des Rasenmähers. Er bemerkte es und sagte: »Mir bleibt nicht mehr viel zu tun.«
    »Aber du kannst doch nichts mehr sehen.«
    »Es geht noch«, sagte er. »Ich muß das noch fertigbringen. Dann setzen wir uns ein wenig auf die Veranda, bevor wir hineingehen.«
    Er half ihr, die Stühle auf die Veranda zu stellen und sich zu setzen, ging zurück und legte die Hand auf die Lenkstange des Rasenmähers. Der Rasenmäher. Ein Rad in einem Rad. Ein einfaches Gerät, das man mit den Händen hält, das man mit Schwung und Geknatter vorwärtsstößt, während man selbst mit seiner stillen Philosophie hinterhergeht. Ein Raumschiff, gefolgt von Stille. Ein rollendes Rad, dann ein weicher Tritt des Gedankens.
    Ich bin Milliarden Jahre alt, sagte er sich; ich bin eine Minute alt. Ich bin drei Zentimeter, nein, zehntausend Meilen groß. Ich blicke hinunter und kann meine Füße nicht sehen; sie sind da unten, weit fort und verschwunden.
    Er schob den Rasenmäher. Das auffliegende Gras rieselte sanft um ihn her; er genoß es und labte sich daran, und ihm war, als sei er die ganze Menschheit, die endlich im frischen Wasser des Jungbrunnens badete.
    So erfrischt, erinnerte er sich wieder an das Lied von den Rädern und der Gnade Gottes dort oben mitten am Himmel, wo jener einzelne Stern unter Millionen unbeweglichen Sternen den Mut hatte, fort –, immer weiter fortzuziehen.
    Dann mähte er seinen Rasen zu Ende.

 
Der wunderbare Eiskrem-Anzug
     
     
     
    Sommerliche Dämmerung über der Stadt. Draußen vor dem Billardklub, in dem es gleichmäßig klickte, atmeten drei junge Mexiko-Amerikaner die warme Luft ein und betrachteten die Welt um sich her. Sie sprachen, schwiegen, schauten den Autos nach, die wie schwarze Panther auf dem heißen Asphalt vorbeiglitten, oder sahen Trolleybusse drohend auftauchen wie Gewitter, Blitze verstreuen und in die Stille hineinrumpeln.
    »Ach«, seufzte Martínez schließlich. Er war der jüngste, der sanfteste und traurigste von den dreien. »Ein großartiger Abend, nicht wahr? Großartig.«
    Die Welt, die er betrachtete, kam dicht auf ihn zu, trieb davon und kam wieder näher. Vorbeieilende Leute waren plötzlich auf der anderen Straßenseite. Fünf Meilen weit entfernte Gebäude neigten sich plötzlich über ihn. Aber meist blieb alles – die Leute, Autos und Gebäude – draußen am Rand der Welt, unberührbar. An diesem warmen Sommerabend war Martínez’ Gesicht kalt.
    »An solchen Abenden wünscht man sich – vieles.«
    »Wünschen«, sagte der zweite Mann, Villanazul, der in seinem Zimmer mit lauter Stimme über Bücher reden konnte, aber auf der Straße nur flüsternd sprach, »Wünschen ist der nutzlose Zeitvertreib der Unbeschäftigten.«
    »Der Unbeschäftigten?« schrie Vamenos, der Unrasierte. »Hört euch den an! Wir haben keine Arbeit, kein Geld!«
    »Also haben wir auch keine Freunde«, sagte Martínez.
    »Stimmt.« Villanazul blickte zu der grünen Plaza hinüber, wo die Palmen sich im leichten Nachtwind wiegten. »Wißt ihr, was ich mir wünsche? Ich möchte auf die Plaza gehen und mit den Geschäftsleuten sprechen, die sich dort abends treffen und große Reden schwingen. Aber so, wie ich angezogen bin, und so armselig, wie ich bin – wer würde mir da schon zuhören? Immerhin sind wir nicht ganz allein, Martínez. Die Freundschaft der Armen ist echte Freundschaft. Wir…«
    Eben schlenderte ein gut aussehender Mexikaner mit feinem dünnem Schnurrbart vorbei. An jedem Arm hing eine lachende Frau.
    »Madre mía!« Martínez schlug sich vor die Stirn. »Wieso verdient der da zwei Freundinnen?«
    »Das macht sein schöner neuer Sommeranzug.« Vamenos kaute an seinem schwarzen Daumennagel. »Schick sieht der aus.«
    Martínez beugte sich vor, um den dreien nachzusehen; da lehnte sich im Wohnhaus auf der anderen Straßenseite hoch oben im vierten Stock ein schönes Mädchen aus dem Fenster. Ihr dunkles Haar bewegte sich leicht im Wind. Sie hatte schon ewig dort gestanden, das heißt seit sechs Wochen. Er
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