Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie
Autoren: Ray Bradbury
Vom Netzwerk:
alt, dann sehr jung; ihm war abwechselnd kalt und warm, mal so, mal so. Plötzlich war er meilenweit fort. Er war sein eigener Sohn, der unaufhörlich redete und sich munter gab, um das Hämmern seines Herzens und die aufsteigende Panik zu überspielen, während er in den frischen Anzug schlüpfte, den Proviantvorrat, Sauerstoffflaschen, Druckhelme kontrollierte und sich aufrichtete, wie alle Menschen auf der ganzen Erde sich heute abend aufrichteten, um zum gestirnten Himmel aufzublicken.
    Dann kehrte er zurück, war wieder der Vater des Sohnes, seine Hände packten den Griff des Rasenmähers. Seine Frau rief: »Komm, setz dich ein wenig auf die Veranda.«
    »Ich muß mich beschäftigen!«
    Sie kam die Stufen herunter und ging über den Rasen. »Mach dir keine Sorgen um Robert; ihm wird nichts passieren.«
    »Aber es ist alles so neu«, hörte er sich sagen. »So etwas hat es noch nie zuvor gegeben. Denk doch nur – ein bemanntes Raumschiff steigt heute abend auf, um die erste Weltraumstation zu bauen. Barmherziger Gott, das kann nicht sein, das gibt es nicht, es gibt kein Raumschiff, kein Versuchsgelände, keine Startzeit, keine Techniker. Also habe ich nicht einmal einen Sohn, der Bob heißt. Das alles ist zu viel für mich!«
    »Und was tust du dann hier draußen, und warum starrst du vor dich hin?«
    Er schüttelte den Kopf. »Als ich heute morgen ins Büro ging, hörte ich jemand laut lachen. Das erschreckte mich, so daß ich mitten auf der Straße stehenblieb und erstarrte. Ich war es, der da lachte. Warum? Weil ich auf einmal wirklich wußte, was Bob heute abend vorhat; endlich glaubte ich es. Heilig ist ein Wort, das ich sonst nie gebrauche, aber so war mir zumute, als ich im Straßenverkehr strandete. Mitten am Nachmittag überraschte ich mich dabei, wie ich etwas summte. Du kennst das Lied: ›Ein Rad in einem Rad. Hoch oben in der Luft.‹ Ich lachte wieder. Die Raumstation natürlich, dachte ich. Das große Rad mit den gebogenen Speichen, in dem Bob sechs oder acht Monate wohnen wird, bevor er zum Mond weiterfliegt. Als ich heimging, fielen mir mehr Worte von dem Lied ein. ›Kleines Rad, dreh dich im Glauben, großes Rad, dreh dich mit Gottes Gnade.‹ Ich hätte springen, laut aufschreien und in die Luft gehen können!«
    Seine Frau faßte seinen Arm. »Wenn wir hier draußen bleiben, dann wollen wir es uns wenigstens bequem machen.«
    Sie stellten zwei Schaukelstühle aus Rohr mitten auf den Rasen und saßen still da, während die Sterne aus der Dunkelheit traten und sich in bleiche Steinsalzstäubchen, von Horizont zu Horizont gestreut, auflösten.
    »Wahrhaftig«, sagte seine Frau schließlich, »es ist, als wartete man wie jedes Jahr bei Sisley Field auf das Feuerwerk.«
    »Aber heute abend sind’s mehr Leute…«
    »Ich denke immerzu daran – eine Milliarde Menschen beobachtet jetzt den Himmel, alle zur gleichen Zeit mit offenem Mund.« Sie warteten und fühlten, wie die Erde sich unter ihren Stühlen bewegte.
    »Wie spät ist es jetzt?«
    »Elf Minuten vor acht.«
    »Du triffst es immer richtig. Du mußt eine Uhr im Kopf haben.«
    »Heute abend kann ich mich nicht irren. Ich kann dir genau die Sekunde sagen, bevor sie zünden. Schau. Die Zehn-Minuten-Vorwarnung!«
    Am westlichen Himmel sahen sie vier leuchtendrote Flammen aufschießen, schimmernd mit dem Wind über die Wüste treiben und dann still zur Erde herabsinken, die sie löschte.
    Mann und Frau saßen in der Dunkelheit reglos auf ihren Stühlen. Nach einer Weile sagte er: »Acht Minuten.« Pause. »Sieben Minuten.« Eine Pause, die viel länger schien. »Sechs…«
    Seine Frau beobachtete mit zurückgelegtem Kopf die Sterne unmittelbar über ihr und murmelte: »Warum?« Sie schloß die Augen. »Warum die Raumschiffe, warum heute abend? Wozu dies alles? Das möchte ich gern wissen.«
    Er sah ihr aufmerksam ins Gesicht; es war bleich im diffusen Licht der Milchstraße. Er fühlte, wie sich ihm eine Antwort aufdrängte, aber er ließ seine Frau weitersprechen.
    »Ich meine, es ist doch nicht wieder die alte Sache, nicht wahr? Wie früher, wenn man fragte, warum die Menschen den Mount Everest bestiegen, und die Leute sagten: ›Weil er nun einmal dasteht‹. Ich habe das nie verstanden. Für mich war das keine Antwort.«
    Fünf Minuten, dachte er. Die Zeit verrinnt… seine Armbanduhr… ein Rad in einem Rad… kleines Rad, dreh dich im… großes Rad, dreh dich… hoch oben in… vier Minuten!… Die Männer inzwischen wohlgeborgen im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher