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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie
Autoren: Ray Bradbury
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Raumschiff, in der Kapsel, auf dem Armaturenbrett zuckte das Licht…
    Seine Lippen bewegten sich.
    »Ich weiß nur, daß es wirklich das Ende vom Anfang ist. Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit – von nun an fassen wir das alles unter einem großen Namen zusammen, einem Namen für die Zeit, da wir auf der Erde gingen und morgens die Vögel hörten und vor Neid weinten. Vielleicht nennen wir es das Erdzeitalter oder vielleicht das Zeitalter der Schwerkraft. Millionen Jahre kämpften wir gegen die Schwerkraft. Als wir noch Amöben und Fische waren, bemühten wir uns, aus dem Meer herauszukommen, ohne daß die Schwerkraft uns erdrückte. Sobald wir sicher am Ufer waren, bemühten wir uns, aufrecht zu stehen, ohne daß die Schwerkraft unsere neueste Errungenschaft, die Wirbelsäule, brach, wir versuchten zu gehen, ohne zu stolpern, zu laufen, ohne zu fallen. Eine Milliarde Jahre hielt die Schwerkraft uns fest, verhöhnte uns mit Wind und Wolken, Kohlweißlingen und Heuschrecken. Das eben ist an diesem Abend so beklemmend groß… Es ist das Ende der alten Schwerkraft und des Zeitalters, das uns ein für allemal an sie erinnern wird. Ich weiß nicht, wo sie die Zeitalter einteilten, bei den Persern, die von fliegenden Teppichen träumten, oder bei den Chinesen, die Geburtstage und das neue Jahr ahnungslos mit Bündeln von Wollblumen und Feuerwerk feierten, oder in einer Minute, einer unwahrscheinlichen Sekunde der nächsten Stunde. Wir stehen am Ende von Milliarden Jahren der Versuche, am Ende von einer langen und für uns Sterbliche jedenfalls würdigen Epoche…«
    Drei Minuten… zwei Minuten fünfzig Sekunden… zwei Minuten achtundvierzig Sekunden…
    Zwei Minuten, dachte er. Fertig? Fertig? Fertig? Das Rufen der fernen Stimme. Fertig! Fertig! Fertig! Die raschen, leisen Antworten aus dem summenden Raumschiff. Kontrolle! Kontrolle! Kontrolle!
    Selbst wenn wir heute abend mit diesem ersten Schiff scheitern, dachte er, werden wir ein zweites und drittes Schiff hinausschicken und zu allen Planeten fliegen und später zu allen Sternen. Wir werden einfach weitermachen, bis die großen Worte »unsterblich« und »ewig« Bedeutung annehmen. Große Worte, ja, die brauchen wir. Beständigkeit. Seit unsere Zunge sich zum ersten Mal regte, haben wir gefragt: Was bedeutet das alles? Angesichts des Todes, der uns im Nacken saß, war jede andere Frage sinnlos. Aber sobald wir uns erst einmal in zehntausend Welten niedergelassen haben werden, die sich um zehntausend fremde Sonnen drehen, wird diese Frage verstummen. Der Mensch wird unbegrenzt und unendlich sein, ebenso wie der Raum unbegrenzt und unendlich ist. Der Mensch wird weiterbestehen, wie der Raum weiterbesteht – ewig. Einzelne werden sterben wie immer, aber unsere Geschichte wird weiterreichen, als wir jemals in die Zukunft zu blicken verlangten, und wenn wir wissen, daß wir alle kommenden Zeiten überleben werden, haben wir die Gewißheit und damit die Antwort, die wir von jeher suchten. Da wir mit Leben begabt sind, ist das geringste, was wir tun können, diese Gabe des Lebens zu bewahren und in die Unendlichkeit weiterzugeben. Das ist ein Ziel, das die Mühe lohnt.
    Die Rohrstühle knisterten leise auf dem Rasen.
    Eine Minute.
    »Eine Minute«, sagte er laut.
    »Oh!« Seine Frau rückte plötzlich näher zu ihm heran und faßte seine Hände. »Ich hoffe, daß Bob…«
    »Ihm wird nichts zustoßen.«
    »O Gott, schütze…«
    Dreißig Sekunden.
    »Jetzt paß auf.«
    Fünfzehn, zehn, fünf…
    »Paß auf!«
    Vier, drei, zwei, eine.
    »Da! Da! Oh, da!«
    Sie schrien auf. Sie standen beide. Die Stühle kippten zurück und fielen auf den Rasen. Mann und Frau taumelten, tasteten mit den Händen umher, faßten einander und hielten sich fest. Sie sahen die aufleuchtende Farbe am Himmel und zehn Sekunden später den großen aufsteigenden Kometen, der die Luft verbrannte, die Sterne auslöschte, in flammendem Flug dahinraste und ein weiterer Stern in dem wieder erscheinenden Gewimmel der Milchstraße wurde. Der Mann und die Frau hielten einander fest, als wären sie am Rand einer unglaublich steilen Klippe gestolpert, vor einem tiefen dunklen Abgrund, der unendlich schien. Sie starrten hinauf und hörten sich schluchzen und weinen. Erst nach geraumer Zeit konnten sie wieder sprechen.
    »Es ist abgeflogen, nicht wahr?«
    »Ja…«
    »Es ist gutgegangen, nicht wahr?«
    »Ja… ja…«
    »Es ist nicht zurückgefallen…?«
    »Nein, es ist gutgegangen, Bob ist nichts
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