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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie
Autoren: Ray Bradbury
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hinunterschaffen und sie vor die Tür setzen.«
    »Warum, wozu?«
    »In einer einzigen Stunde« – Jamies Augen bewegten sich rasch zählend hin und her – »gehen tausend Leute an unserem Tor vorbei. An einem Tag laufen, humpeln oder reiten zwanzigtausend Leute vorüber. Jeder könnte unsere sterbende Schwester sehen, ihre Zähne zählen, sie an den Ohrläppchen zupfen, und alle, wohlgemerkt, alle hätten eine wundersame Arznei anzubieten! Einer davon müßte die richtige haben!«
    »Ach«, sagte Mr. Wilkes verblüfft.
    »Vater!« fuhr Jamie atemlos fort. »Hast du je einen einzigen Mann gekannt, der nicht glaubte, er hätte die Materia Medica persönlich geschrieben? Diese grüne Salbe gegen Halsweh, jene Ochsensalbe gegen Ansteckungsgefahr oder die Blähsucht? Eben jetzt schleichen dort unten zehntausend selbsternannte Apotheker vorbei, und ihre Weisheit geht uns verloren!«
    »Jamie, mein Junge, du bist unglaublich!«
    »Hört auf!« bat Mrs. Wilkes. »Meine Tochter wird weder in dieser noch in einer anderen Straße zur Schau gestellt…«
    »Schäm dich, Frau«, sagte Mr. Wilkes. »Camillia schmilzt wie Schnee dahin, und du weigerst dich, sie aus diesem heißen Zimmer herauszubringen? Komm, Jamie, heb das Bett hoch!«
    »Camillia?« Mrs. Wilkes wandte sich an ihre Tochter.
    »Ich kann ebensogut im Freien sterben«, sagte Camillia, »wo vielleicht eine kühle Brise meine Locken bewegt, während ich…«
    »Unsinn!« sagte der Vater. »Du wirst nicht sterben. Jamie, heb an! Ha! So! Geh uns aus dem Weg, Frau. Hoch, Junge, höher.«
    »Oh«, rief Camillia mit schwacher Stimme. »Ich fliege, ich fliege…!«
     
     
    Plötzlich öffnete sich ein blauer Himmel über London. Die Bevölkerung eilte, vom schönen Wetter überrascht, auf die Straßen hinaus, eifrig bemüht, etwas zu sehen, zu tun, zu kaufen. Blinde sangen, Hunde sprangen, Clowns schlurften daher, Kinder zeichneten mit Kreide Spiele, warfen Bälle, als sei Karnevalszeit.
    Und mitten in all dies hinein trugen Jamie und Mr. Wilkes schwankend und mit über den Brauen hervortretenden Adern Camillia wie eine Päpstin hinunter; sie segelte hoch oben in ihrer Sänfte, die Augen fest geschlossen, betend.
    »Vorsichtig!« schrie Mrs. Wilkes. »Ach, sie ist tot! Nein. So. Setzt sie nieder. Sachte…«
    Und schließlich wurde das Bett gegen die vordere Hauswand gelehnt, so daß der vorbeiwirbelnde Strom der Menschheit Camillia sehen konnte, eine große blasse Puppe vom Bartholomäus-Fest, die wie ein Siegespreis in der Sonne ausgestellt wurde.
    »Hol einen Gänsekiel, Tinte und Papier, Junge«, sagte der Vater. »Ich notiere die Symptome, die die Leute nennen, und die Arzneien, die vorgeschlagen werden. Heute abend zählen wir sie dann aus. Jetzt…«
    Aber schon hatte ein Mann in der vorüberziehenden Menge Camillia mit scharfem Blick erspäht.
    »Sie ist krank«, sagte er.
    »Aha«, sagte Mr. Wilkes freudig. »Es fängt schon an. Die Feder, mein Junge. Nur weiter, Sir!«
    »Ihr ist nicht wohl.« Der Mann machte eine finstere Miene. »Es geht ihr schlecht.«
    »Geht ihr schlecht…«, schrieb Mr. Wilkes, dann erstarrte er.
    »Sir?« Er sah mißtrauisch auf. »Sind Sie Arzt?«
    »Ja, das bin ich, Sir.«
    »Dacht ich mir’s doch; die Worte kenne ich! Jamie, hol meinen Rohrstock, treib ihn fort! Gehen Sie, Sir, verschwinden Sie!«
    Der Mann eilte fluchend und erbittert davon.
    »Ihr ist nicht wohl, es geht ihr schlecht… pah!« äffte Mr. Wilkes den anderen nach, aber dann hielt er inne. Denn jetzt deutete eine Frau, groß und dürr wie ein eben dem Grab entstiegenes Gespenst, mit dem Finger auf Camillia Wilkes.
    »Blähungen«, intonierte sie.
    »Blähungen«, schrieb Mr. Wilkes erfreut.
    »Lungenfluß«, sang die Frau.
    »Lungenfluß«, schrieb Mr. Wilkes strahlend. »Na, da kommen wir der Sache schon näher!«
    »Sie braucht eine Medizin für die Melancholie«, sagte die Frau matt. »Hätten Sie zu Pulver gemahlene Mumien im Haus? Die besten Mumien sind: Ägypter, Araber, Hirasphatos und Libyer, die sind alle sehr nützlich bei magnetischen Störungen. Fragen Sie nach mir, der Zigeunerin von Flodden Road. Ich verkaufe Steinpetersilie, männliche Olibanumblüten…«
    »Flodden Road, Steinpetersilie… nicht so schnell, Frau!«
    »Opobalsam, pontischen Baldrian…«
    »Wartet, Frau! Opobalsam, ja! Jamie, halt sie zurück!«
    Aber die Frau glitt, weitere Arzneien aufzählend, weiter.
    Jetzt kam ein Mädchen, nicht älter als siebzehn, und starrte Camillia Wilkes
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