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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie
Autoren: Ray Bradbury
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blickte auf, überrascht, jemand so nahe zu finden. Dann stand er einfach da und blickte von George Smith zu seiner wie nichtige Fußstapfen auf den Weg hingeworfenen Schöpfung. Schließlich lächelte er und zuckte die Achseln, als wollte er sagen: Schau, was ich getan habe; siehst du, was für ein Kind ich bin? Du verzeihst mir, nicht wahr? Ab und zu sind wir alle Narren… Du vielleicht auch? Dann erlaubst du das hier einem alten Narren, he? Na gut!
    Aber George Smith konnte nur den kleinen Mann mit der sonnenverbrannten Haut und den scharfen klaren Augen ansehen und den Namen des Mannes einmal flüsternd vor sich hinsagen.
    So standen sie vielleicht noch fünf Sekunden. George Smith starrte auf den Sandfries, und der Künstler beobachtete George belustigt und neugierig. George Smith öffnete den Mund, schloß ihn wieder, streckte seine Hand aus und zog sie zurück. Er trat auf die Bilder zu und entfernte sich wieder. Dann ging er an den Figuren entlang wie ein Mann, der eine Reihe kostbarer Marmorbilder in Augenschein nimmt, die man in einer alten Ruine an der Küste zutage gefördert hat. Seine Hand wollte berühren und wagte es nicht. Er wollte fortlaufen, aber er lief nicht.
    Plötzlich sah er zum Hotel hinüber. Lauf, ja! Lauf! Was? Nimm einen Spaten, grabe, grabe aus, rette ein Stück von diesem allzu leicht verrieselnden Sand! Suche dir einen Restaurator und hetze ihn zurück mit Gips, um einen Abdruck dieser kleinen, zerbrechlichen Teile anzufertigen. Nein, nein. Unsinn, Unsinn. Oder…? Seine Augen schweiften rasch zu seinem Hotelfenster hinüber. Die Kamera! Lauf, hol sie, komm zurück und jage knipsend an der Küste entlang, knipsend, Filme wechselnd, knipsend, bis…
    George Smith fuhr herum und blickte nach der Sonne. Sie brannte noch schwach auf seinem Gesicht; seine Augen waren zwei kleine, von ihr entzündete Feuer. Die Sonne war schon halb unter Wasser, und während er hinübersah, sank sie in Sekundenschnelle das letzte Stück hinab.
    Der Künstler war nähergetreten und blickte nun sehr freundlich in George Smiths Gesicht, als erriete er jeden Gedanken. Nun nickte er mit einer kleinen Verbeugung. Der Eiskremstock war ihm unbemerkt aus den Fingern gefallen. Nun sagte er gute Nacht, gute Nacht. Und schon war er fort und ging am Strand zurück nach Süden.
    George Smith stand und schaute ihm nach. Nach einer ganzen Minute tat er das einzige, was er überhaupt noch tun konnte. Er ging vom Anfang des phantastischen Frieses der Satyre und Faune und in Trauben getauchten Mädchen, tänzelnden Einhörner und flötenden Jünglinge langsam am Ufer entlang. Er ging einen langen Weg und betrachtete dabei das frei sich entfaltende Bacchanal. Und als er die letzten Tiere und Menschen erreicht hatte, drehte er sich um und ging in die andere Richtung zurück und starrte vor sich hin, als hätte er etwas verloren und wüßte nicht, wo er es suchen sollte. Dies tat er, bis am Himmel und auf dem Sand kein Licht mehr war, in dem er hätte sehen können.
     
     
    Er setzte sich an den Tisch zum Abendessen.
    »Du kommst spät«, sagte seine Frau. »Ich mußte einfach allein hinuntergehen. Ich habe einen fürchterlichen Hunger.«
    »Das macht nichts«, sagte er.
    »Irgend etwas Interessantes auf deinem Spaziergang?« fragte sie.
    »Nein«, sagte er.
    »Du siehst merkwürdig aus, George, du bist doch nicht etwa zu weit hinausgeschwommen und fast ertrunken? Ich sehe es deinem Gesicht an. Du bist zu weit geschwommen, stimmt’s?«
    »Ja«, sagte er.
    »Nun«, sagte sie und blickte ihn forschend an. »Tu das nie wieder. Was möchtest du essen?«
    Er nahm die Speisekarte und begann sie zu lesen. Plötzlich hielt er inne.
    »Was ist?« fragte seine Frau.
    Er wandte den Kopf und schloß einen Augenblick die Augen.
    »Horch.«
    Sie lauschte.
    »Ich höre nichts«, sagte sie.
    »Nein?«
    »Nein. Was ist denn?«
    »Nur die Flut«, sagte er nach einer Weile und hielt die Augen geschlossen. »Nur die Flut, die hereinkommt.«

 
Der Drache
     
     
     
    Der Nachtwind strich über das kurze Gras im Moor; sonst rührte sich nichts. Es war Jahre her, seit ein einziger Vogel durch die große blinde Muschel des Himmels geflogen war. Vor langer Zeit hatten ein paar kleine Steine Leben vorgetäuscht, als sie zerbröckelt und in Staub zerfallen waren. Jetzt regte sich nur die Nacht allein in den Gedanken der beiden Männer, die sich in dieser Einöde über ihr Feuer beugten; Dunkelheit floß still durch ihre Adern und tickte unhörbar in
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