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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie
Autoren: Ray Bradbury
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Fäusten und zogen ihren Pferden die Visiere über die Augen.
    »Herr!«
    »Ja, laß uns Seinen Namen sprechen.«
    Im gleichen Augenblick kam der Drache um einen Hügel herum. Sein riesiges bernsteinfarbenes Auge weidete sich an ihnen und ließ ihre Rüstungen in rotem Glanz aufflammen. Er stürzte mit schrecklichem, klagendem Schrei knirschend und brausend vorwärts.
    »Gott, erbarme dich!«
    Die Lanze fuhr unter das lidlose gelbe Auge, krümmte sich und schleuderte den Ritter durch die Luft. Der Drache schlug zu, warf ihn zu Boden und zermalmte ihn. Die wuchtige schwarze Schulter zerschmetterte das andere Pferd und den Reiter hundert Fuß weiter an einem Felsblock, während der Drache klagend schrie und das Feuer um ihn her und unter ihm aufloderte, ein rosa, gelbes, orangefarbenes Sonnenfeuer mit großen, weichen, alles verhüllenden Rauchfahnen.
    »Hast du ihn gesehen?« rief eine Stimme. »Genau, wie ich dir sagte.«
    »Ja, genau so! Ein Ritter in voller Rüstung, beim Herrn Harry! Wir haben ihn überfahren!«
    »Willst du anhalten?«
    »Das habe ich einmal getan, doch ich fand nichts. Ich halte nicht gern auf diesem Moor. Es macht auch kribblig. Es ist mir nicht geheuer.«
    »Aber wir haben etwas überfahren!«
    »Ich habe die Pfeife lange genug blasen lassen; der Bursche rührte sich nicht!«
    Ein dampfender Luftstoß zerteilte den Nebel.
    »Wir kommen rechtzeitig in Stokely an. Mehr Kohle, Fred?«
    Ein weiterer Pfiff schüttelte Tau vom leeren Himmel. Der Nachtzug schoß in Wut und Feuer durch eine Schlucht, einen Hang hinauf und über der kalten Erde nach Norden hin; er ließ schwarzen Rauch und Qualm zurück, der sich Minuten, nachdem der Zug vorbeigefahren und für immer verschwunden war, in der erstarrten Luft auflöste.

 
Medizin für Melancholie
    (oder: Das Geheimnis der wundersamen Arznei)
     
     
     
    »Schicken Sie nach Blutegeln; ihr muß Blut abgezapft werden«, sagte Doktor Gimp. »Aber sie hat doch gar kein Blut mehr«, rief Mrs. Wilkes. »Ach, Doktor, was fehlt unserer Camillia?«
    »Ihr ist nicht wohl.«
    »Ja, ja!«
    »Es geht ihr schlecht.« Der brave Doktor machte ein finsteres Gesicht.
    »Nun, und weiter?«
    »Sie ist eine flackernde Kerzenflamme, ganz bestimmt.«
    »Ach, Doktor Gimp«, protestierte Mr. Wilkes. »Sie sagen uns, wenn Sie fortgehen, nichts anderes, als was wir Ihnen schon sagten, als Sie hereinkamen!«
    »Nein, mehr! Geben Sie ihr diese Pillen morgens, mittags und beim Sonnenuntergang. Es ist eine wundersame Arznei!«
    »Verflixt, sie ist schon vollgestopft mit wundersamen Arzneien!«
    »Na, na! Macht einen Schilling, dann gehe ich jetzt, Sir.«
    »Gehen Sie und schicken Sie den Teufel herauf!« rief Mr. Wilkes und schob dem braven Doktor eine Münze in die Hand.
    Daraufhin stampfte der Arzt schnaufend, schnupfend und niesend an einem matschigen Frühlingsmorgen des Jahres 1782 auf die wimmelnden Straßen Londons hinaus.
    Mr. und Mrs. Wilkes wandten sich wieder dem Bett zu, in dem ihre liebe Camillia bleich, abgemagert, ja, aber dennoch durchaus nicht unlieblich mit großen feuchten Fliederaugen dalag, das Haar ein goldener Bach auf dem Kissen.
    »Oh«, sagte sie fast weinend. »Was wird aus mir? Seit der Frühling aufging, vor drei Wochen, bin ich nur noch ein Gespenst in meinem Spiegel; ich fürchte mich vor mir selbst. Wenn ich denke, daß ich sterbe, ohne meinen zwanzigsten Geburtstag zu erleben.«
    »Kind«, sagte die Mutter. »Was tut dir denn weh?«
    »Meine Arme. Meine Beine. Meine Brust. Mein Kopf. Wie viele Ärzte – sechs? – haben mich umgedreht wie einen Ochsen am Spieß. Nichts mehr davon. Laßt mich unberührt fortgehen.«
    »Was für eine grausige, geheimnisvolle Krankheit«, sagte die Mutter. »Ach, tu doch etwas, Mister Wilkes!«
    »Aber was?« fragte Mr. Wilkes ärgerlich. »Sie will weder den Arzt noch den Apotheker noch den Priester! Und damit amen! Die haben mich sowieso schon ausgepreßt! Soll ich etwa auf die Straße laufen und auch noch den Schornsteinfeger heraufholen?«
    »Ja«, sagte eine Stimme.
    »Was?« Sie drehten sich alle drei um.
    Sie hatten den jüngeren Bruder Jamie ganz vergessen, der weiter hinten am Fenster stand, sich in den Zähnen pulte und gelassen in den Sprühregen und das laute Gepolter der Stadt hinunterschaute.
    »Vor vierhundert Jahren hat man es versucht«, sagte er ruhig, »und es gelang. Holt nicht den Schornsteinfeger herauf, nein, nein. Wir sollten Camillia mit ihrer Bettstelle und allem hochheben, sie die Treppe
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