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Mea culpa

Mea culpa

Titel: Mea culpa
Autoren: Anne Holt
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erhebt sich, leicht jetzt, graziös, und kommt auf mich zu, nimmt meine Hand, wir stehen nebeneinander da und betrachten vor uns das Spiel des Mondes, das Meer atmet schwer und zufrieden, und Asha drückt meine linke Hand, dann lässt sie sie wieder los.
    »Was meinst du? Habe ich mich richtig verhalten?«
    Ich kann mit dieser Geschichte nicht umgehen. Es steht nicht einmal fest, ob ich ihr glaube. Sie ist jetzt so fremd, eine ganz andere als die, die ich vor über einem halben Jahr kennen gelernt habe und die »yes, ma’am« sagte und fast kein Englisch sprach. Ich bin hergekommen, um meine Ruhe zu haben. Ich wollte allein sein. Asha ist so fremd, aber auch viel zu nah und vertraut. Jetzt haben sie mich, der kleine Junge und seine Großtante, und ich werde von einer Trauer darüber erfüllt, dass es mir offenbar unmöglich ist, Einsamkeit zu finden, die absolute Isolation, die ich verdiene, die ich brauche, um irgendwann dahin zurückkehren zu können, wo ich hergekommen bin. Asha steht neben mir und bedeutet mir etwas, sie und ihr kleiner Junge halten mich zurück, während ich weiß, dass ich weg muss, und ihre Geschichte, die sie unmöglich auch anderen erzählt haben kann, bindet mich an diesen Ort; ich schlage die Augen nieder und stelle fest, dass Sand und Wasser meine Füße angesaugt haben, ich stehe bis zu den Knöcheln in Sand und Wasser.
    »Vielleicht«, sage ich. »Es steht mir nicht zu, das zu beurteilen.«
    »Du machst es dir zu leicht, Synne. Wenn es uns Menschen nicht zusteht, zu urteilen, wem steht es denn dann zu? Gott? Du hast doch gesagt, dass du nicht an Gott glaubst.«
    »Du musst selber urteilen. Wir müssen uns alle selber beurteilen. Nur wir wissen doch Bescheid, Asha. Mit welchem Recht schaffen wir uns unser eigenes Leben? Und haben wir das Recht, zu … Ist es richtig, unser eigenes Glück zu verfolgen, weil wir glauben, dass damit auch das Leben anderer besser werden kann? Hast du an dich gedacht oder an Pierrot, als du ihn mitgenommen hast? Ich weiß es nicht. Ich kann nicht … Wir müssen unsere eigenen Entscheidungen treffen und danach versuchen, uns damit zu versöhnen.«
    »Aber ich habe doch keine Entscheidung getroffen! Ich stand einfach nur vor dem brennenden Haus, und als mir aufging, dass niemand überlebt haben konnte, bin ich losgegangen. Ich habe mich nicht entschlossen, ich bin einfach losgegangen. War das richtig?«
    Noch immer sinke ich immer tiefer in den Sand, er wirkt wie Treibsand, und ich habe Angst, als ich versuche, mich loszureißen, ich stecke fest, ich bücke mich rasch und nehme die Hände; nach einigen Sekunden bin ich frei und rette mich aufs Trockene. Ich zucke mit den Schultern und laufe zum Bungalow, ich will Petter sehen.
    Er liegt quer über dem Bett, ohne Decke, er ist heiß, seine Brust ist von Schweißperlen bedeckt, er macht sich breit und hat seine Arme und Beine überall, seine Schlafanzughose ist zu klein, und an seinen bloßen Beinen sehe ich Sandkörner, die im schwachen Licht des Badezimmers funkeln wie Diamanten, sein Gesicht ist von völliger Ruhe geprägt und umkränzt von den zerzausten Haaren, die dunkelbraun und struppig sind und blonde Spitzen haben: In einer Woche wird er acht und bekommt von einer zufällig Vorüberkommenden ein Boot, ehe sie weiterfährt, um vielleicht nie wiederzukommen.
    Asha ist mir gefolgt und flüstert:
    »Habe ich mich richtig verhalten, Synne?«
    Ohne zu antworten, schleiche ich mich zum Bett und ziehe den italienischen Schuhkarton unter der Matratze hervor. Noch immer schweigend gehe ich zurück zum Strand und setze mich in Petters schrottreifen Strandkorb.
    Asha nimmt in dem anderen Platz, wir scheinen jetzt miteinander verbunden zu sein, sie lässt mich nicht los, und ich würde mich gern darüber ärgern, empfinde stattdessen jedoch eine Art von … Zuneigung?
    Der Brief liegt ungelesen unten im Karton. Als ich ihn hervorziehe, fallen andere Zettel heraus, und ich bekomme Angst, ich klaube sie zusammen und stopfe sie zurück und drücke den Deckel darauf. Ich öffne den ungelesenen Brief.
    Asha schweigt. Ich lese den Brief dreimal.
    »Ich brauche nicht nach Norwegen zurückzufahren«, sage ich, während ich den Brief wieder zusammenfalte. »Ich habe nichts verbrochen. Die Polizei sagt, dass ich nichts verbrochen habe. Die Ermittlungen sind eingestellt worden.«
    »Aber das spielt doch keine Rolle«, flüstert Asha. »Nur du weißt, ob du schuldig bist, nicht wahr? Andere können nicht über dich
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