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Mea culpa

Mea culpa

Titel: Mea culpa
Autoren: Anne Holt
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über Benedicte auf.
    »Jetzt bist du zu weit gegangen, Benedicte. Jetzt bist du entschieden zu weit gegangen. Du bist eine verwöhnte freche Göre, auf die wir schon viel zu lange Rücksicht genommen haben. Wann hast du eigentlich vor, erwachsen zu werden?«
    Synne verspürte den unbändigen, beängstigenden Drang, sie zu schlagen, und sie packte krampfhaft ihre Hemdenzipfel, um nicht den Arm zu heben. Die Kleine duckte sich nicht einmal, im Gegenteil, sie warf den Kopf in den Nacken und ging zur Tür. Sie schaute niemanden an.
    »Komm zurück«, brüllte Synne. »Du kommst jetzt zurück. Und zwar sofort! «
    Dann sah sie Rebecca an. In all den Jahren, seit jenem Sonntagabend, den sie beide vergessen und verdrängt hatten, hatte Rebecca nicht mehr so ausgesehen. Ihr Gesicht war flach und ausdruckslos, und ihre Augen waren nur zwei schwarze Öffnungen in einem Kopf, der vollständig leer zu sein schien.
    »Scheißgöre!«, schrie Synne und rannte hinaus in die Diele.
    Der Schlüssel war verschwunden. Der Wagenschlüssel. Ihr Wagenschlüssel, der dort auf dem Tisch gelegen hatte. Jetzt war er verschwunden.
    »Verdammt, sie hat mein Auto genommen«, sagte sie zu Rebecca, die noch immer Putzlappen und Diplomatenkoffer in Händen hielt und von solcher Trauer erfüllt war, dass Synne es nicht ertrug, sie noch länger anzuschauen.
    »Immerhin trinkt sie nicht«, flüsterte Rebecca. »Und immerhin fährt sie vorsichtig.«
    Und obwohl Synne für einen Moment – für einen winzigen Moment – mit diesem Gedanken spielte, tat sie es dann doch nicht. Synne lief nicht hinter Benedicte her. Durch das Dielenfenster sah sie sie ungestüm zum Wagen laufen, sich hinter das Steuerrad setzen und losfahren. Synne versuchte nicht, sie zurückzuhalten.
    41
    Hervé bringt ein Telegramm. Er kommt mir nervös vor und will nicht fahren; obwohl ich ihn für seine Mühe großzügig bezahlt habe, bleibt er stehen, neben dem Wagen, steckt sich eine Zigarette an und mustert mich ängstlich. Vielleicht ahnt er meine Unruhe, meine Angst, was mag das hier sein?
    Ich kann die Nummer mit dem Brief nicht noch einmal durchziehen. Das hier ist ein Telegramm. Wenn die Sache nicht wichtig wäre, lebenswichtig vielleicht, dann hätte ich einen Brief bekommen. Ich muss es öffnen, es steckt in einem Umschlag von schlechter Papierqualität, mit einem Fenster, in dem mein Name zu lesen ist.
    Hervé folgt mir lautlos an den Strand.
    »Ich komme am 20. Juni. Wir haben solche Angst um dich. Du warst so lange weg. Hol mich am Flughafen ab, Flug BA 2063 aus London. Deine Mama.«
    »Schlechte Nachrichten?«, fragt Hervé, aber ich kann nicht sofort antworten.
    Mama kommt. Hierher, auf eine Insel im Indischen Ozean, wo ich für unbestimmte Zeit einen Bungalow gemietet habe und nicht so recht weiß, was ich tue. Das Telegramm erfüllt mich mit blitzschneller, funkelnder Freude, Mama kommt, und ich schlucke.
    »Meine Mutter kommt«, sage ich endlich und starre das Telegramm an.
    Dann schaue ich auf, schaue Hervé an. Er grinst von einem Ohr zum anderen.
    »Schön«, sagt er. »Wann soll ich sie abholen?«
    »Lass nur«, sage ich. »Schau morgen mal rein, ja?«
    Mama kommt. Mich erfüllt eine unendliche Sehnsucht, ein tiefes Verlangen nach Zuwendung, nach Nähe, nach echter Nähe, nach der Nähe, die sich nur mit der Zeit einstellt und die sich nicht innerhalb von sieben widerwilligen Monaten zusammen mit einer alten Frau und ihrem reizenden Großneffen aufbauen lässt; ich sehne mich danach, geliebt zu werden, dazuzugehören, ich will spüren, dass jemand mich lieb hat, egal, was ich auch getan habe; und ich spüre es – sie ist meine Mutter, und sie kommt, weil sie sehen will, wie es mir geht, sie will sich um mich kümmern, und ich spüre, welche Freude mir das bereitet, welche intensive Freude, dass Mama kommt und mich vielleicht fest, fest an sich drückt und sagt, dass sich schon alles finden wird. Dass wir nur Zeit brauchen.
    Ich suche mir Papier und einen Bleistift. Die Spitze ist abgebrochen, Petter hat damit gespielt. Lange stehe ich am Spülbecken und spitze ihn mit dem Messer, spitzer und spitzer, und am Ende muss ich aufhören, sonst könnte ich ihn nicht mehr halten.
    »Liebe Mama. Komm nicht. Ich fahre uebermorgen weiter. Ihr hoert von mir, wenn ich nach Hause komme. Gruess Papa und Silje. Ich denke auch an euch. Deine Synne.«
    Das kann Hervé morgen aufgeben.
42
    Synne konnte nicht schlafen. Der Zusammenstoß mit Benedicte machte ihr schrecklich zu
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