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Mata Hari

Mata Hari

Titel: Mata Hari
Autoren: Enrique Gomez Carrillo
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Nonne. Der junge Doktor, das war ich. Ich ging also zu ihr, und zwar mit der Befürchtung, die Reaktion auf die Anspannung der letzten Tage könnte bei ihr, Nervenmensch durch und durch, eine Krisis bewirkt haben, ähnlich denen, die sie, nach eigenem Geständnis, zur Zeit ihrer großen künstlerischen Triumphe durchzumachen hatte. Aber nein, gar nichts derartiges. Sie hatte mich auch gar nicht als Arzt rufen lassen. Sie sehnte sich nach interessanten Büchern und bat mich, ich möchte sie ihr verschaffen. Bereitwillig nannte ich zwei oder drei berühmte Romanschriftsteller: Bourget, Marcel Prévost, Rosny. »O nein,« murmelte sie geringschätzig. »So etwas nicht. Für Geschichten mit bürgerlichem Milieu habe ich nicht viel übrig. Denken Sie, die Bücher, die man Sittenromane nennt, habe ich nie auslesen können. Mich reizt nur Dichtung, wenn sie etwas Geheimnisvolles und Religiöses, etwas von Sage und Magie enthält. In Schönheit zu leben gibt es, glaube ich, nur ein einziges Mittel: wir müssen die tausend Miseren des Alltags weit hinter uns lassen und hoch hinauf in die Sphäre des Ideals fliegen. Daher ist mir alles Europäische, selbst die Religion, unerträglich geworden ...« Hier steckte sie die entzückende Schmollmiene eines verzogenen Kindes auf: »Hinterbringen Sie das ja nicht den armen Nonnen, die es sich in den Kopf gesetzt haben, mich zu bekehren. Was das Wort Religion für mich bedeutet, würden die Ärmsten überhaupt nicht verstehen, und wenn sie hörten, wie ich meine Tänze und selbst meine Liebkosungen zu Andachtsübungen erhebe, würden sie vor mir sicher das Zeichen des Kreuzes machen ... Denn ich bin eine Hindu, trotz meiner holländischen Geburt ... Ganz und gar eine Hindu, jawohl, jawohl! Sie sind ein intelligenter Mensch, Doktor, also bitte sagen Sie: Habe ich irgend etwas Europäisches an mir? ... Nein, nicht wahr! Ich bin eine Orientalin. Daher interessiert mich auch einzig und allein der Orient. Wenn man mit mir von der Heimat spricht, dann wendet sich mein Geist einem fernen Lande zu, wo eine goldene Pagode sich im Schlangenlauf eines Flusses spiegelt. Ich könnte nicht genau sagen, woher ich bin ... Aus Benares? Aus Golkonda? Aus Gwalior? Aus Madura? Ein Geheimnis liegt in meiner Abstammung, in meinem Blut ... Später wird man es verstehen ... Ich selbst habe es kaum noch ergründet ...« Eine Wolke von Schwermut oder Heimweh schien über ihre Augen zu streichen, da sie so nachdenklich die Frage nach ihrer phantastischen Wiege heraufbeschwor. Tatsächlich wurde auch die Wirklichkeit hierbei unerklärlich. Weder der Typus, noch der Charakter, weder die Kultur, noch die Haut, weder die Gedankenwelt noch sonst irgend etwas an dieser Frau gehörte unseren Breiten. Man spürte etwas Triebhaftes, eine Art Urzustand und gleichzeitig etwas Priesterliches, etwas vom heiligen Funken, und zwar in ganz eigentümlicher Verfeinerung. Etwas Unbestimmtes, wie soll ich's nennen ...?
    Dr. Bralez sucht nach einem Ausdruck, einem Bild, um seine merkwürdige und widerspruchsvolle Beobachtung kurz zusammenzufassen. Man fühlt, daß auch er, wie alle, die mit ihr zusammenkamen, einen lebhaften Eindruck hatte von der Mischung ihres Charakters aus Einfachheit und Kompliziertheit, aus Naivität und Berechnung, aus Hochmut und Milde.
    – Einer ihrer Geliebten – sagte ich, um ihm bei seinem vergeblichen Suchen nach dem passenden Wort zu helfen – erklärt es vielleicht, wenn er sagt, sie wäre ein vom bösen Geist besessenes Kind.
    – Das möchte ich nicht sagen, versetzte er; ich habe sie nicht in ihren besten Zeiten gekannt, wo sie ihre weiblichen Instinkte ganz nach Belieben spielen lassen konnte. In der engen Zelle, immer in Gesellschaft mit anderen Gefangenen, gänzlich abgeschlossen von der Außenwelt, wäre sie doch dann wie ein Panther im Käfig anzusehen gewesen. Das ist durchaus nicht richtig. Ein Panther, selbst im Käfig, ist wild und unbändig. Aber nie hatte ich von ihr den Eindruck eines grausamen Wesens. Oft war sie matt bis an die Grenze der Stumpfheit, dann wieder fieberhaft erregt, fast gebieterisch, doch stets bewahrte sie ein aristokratisches, feinfühliges Wohlwollen, das von vornherein das ihr zugefügte Böse zu verzeihen schien. Ihre Kultur verriet Gründlichkeit, aber nicht etwa, weil sie umfassend war, sondern weil sie ihr ganzes Tun und Denken beherrschte, und sie in jedem Augenblick ihres Lebens leitete. Als ich, von ihr gerufen, zwei Tage nach der Urteilsverkündigung
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