Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
Vom Netzwerk:
Frau, bestimmt nicht für seinen Sohn, aber für diese Falafel.
    »Bruder, du sagst die Wahrheit. Ich mach dir sofort ein neues Brot – mit extra viel Humus.« Mit hektischen Bewegungen nahm Saod das Fladenbrot in die Hand und haute einen kräftigen Klatscher dickflüssigen Humus drauf.
    Das war eine der Eigenschaften, die ich an Baba immer bewundert hatte – er konnte Menschen auch vom größten Mist überzeugen. Vielleicht, weil jeder Angst vor Baba hatte oder weil er aussah wie dieser Mussolini, ich wusste es nicht, doch Babas Worte waren Gesetz. Basta. Ich hoffte, er wäre mit der hart erkämpften Extraportion Humus endlich zufrieden, doch Pustekuchen, Baba war niemals zufrieden.
    »Saod, du hast die Falafel nach Pirmasens gebracht – ein wenig arabische Kultur in diesen unwissenden Haufen –, du bist eine Falafel, nein, du bist der Vater aller Falafel!« Saod nickte entschlossen. Sein Blick war plötzlich genauso feurig und impulsiv wie Babas – Verrücktheit war anscheinend übertragbar wie ein Grippevirus.
    »Ja, ich bin eine Falafel!« Saod sagte das mit echter Überzeugung, er schlug sich auf die Brust und war stolz, eine Falafel zu sein. Ich verstand die Welt nicht mehr. In der anderen Ecke des Ladens saß ein Mann mit Schnauzer, der die ganze Zeit still an seinem Dönerbrot gekaut und Babas Rede bewusst ignoriert hatte, doch Baba ließ sich nicht ignorieren.
    »Du da vorne, mit dem Staubwedel über der Lippe, ich sehe doch, dass du Araber bist.« Der Mann verschluckte sich an seinem Ayran.
    »Warum isst du Döner? Du musst Falafel essen! Du musst deinen Arbeitskollegen von dem köstlichen Geschmack der Falafel erzählen! Du musst deine Frau zwingen, jeden Tag Falafel zuzubereiten! Du musst die Falafel vor dem Aussterben retten. Wenn die Falafel stirbt, stirbst du !« Baba brüllte so laut, dass sein Gesicht rot wurde. Ich kicherte, weil er die ganze Ladentheke vollgespuckt hatte, er schlug mir auf den Hinterkopf, weil nicht die Zeit für Albereien war. Der fremde Mann runzelte die Stirn und wischte sich den milchigen Ayranschaum aus dem Schnauzer.
    »Sag es!«
    »Was soll ich sagen?«
    »Sag, dass du eine Falafel bist!«
    Der Fremde wusste nicht so recht, was er tun sollte, es fiel ihm sichtlich schwer, sich mit gestampften Kichererbsen zu identifizieren. Baba sah ihn an und hatte diesen düsteren, eisernen Blick, der sogar einen Löwen in die Knie zu zwingen vermochte.
    »Ähm … ich bin eine Falafel?«, stotterte der fremde Mann.
    »Das ist keine Frage, sondern die Antwort auf alle deine Fragen! Mein es, wie du es sagst!«
    »Ich bin eine Falafel!«, rief er dieses Mal entschlossener.
    Baba ging zu ihm, klopfte ihm auf die Schultern und nickte stolz wie ein Vater bei den ersten Worten seines Sohnes. Ich war fassungslos. Ich wurde Zeuge einer unfassbaren Tat: Baba berührte jemanden, nicht um ihn zu schlagen, nicht um ihn von sich wegzustoßen, nein, um sein Wohlwollen auszudrücken. Eine derart menschliche, fast freundschaftliche Geste von meinem Baba! Ich wurde eifersüchtig, weil Baba einen fremden Mann mehr mochte als mich, nur weil der so einen bescheuerten Satz gesagt hatte. Saod gesellte sich zu Baba und dem Mann, plötzlich standen drei erwachsene Männer in einem Raum, in dem verfaulte Essensreste an türkis-weißen Kacheln klebten, sie umarmten sich und sangen Lobhymnen auf die Falafel. Sie nickten einander zu, legten sich die Arme um die Schultern, wie drei Männer, die dasselbe schwere Los gezogen hatten. Ich stand abseits der Gruppe, Baba drehte sich mir zu.
    »Und du, Wasiem, auch du bist eine Falafel!«
    »Baba …«
    »Sag es!« Ich wollte Baba nicht enttäuschen. Für etwas Aufmerksamkeit hätte ich sogar gerufen, ich sei ein arabischer Hmar, also holte ich tief Luft, rief so laut ich konnte: »Ich bin eine Falafel!«, und bekam dafür ein flüchtiges Lächeln von Baba. Saods Laden war kein gewöhnlicher Imbiss mehr. Außer dem Geruch von Frittieröl und altem Fleisch schwebte noch etwas ganz anderes in der Luft: das herrliche Gefühl von Brüderlichkeit und echtem Zusammenhalt.
    Baba hatte jene überschwänglichen Emotionen in einen Imbiss gebracht, die Präsidenten auslösen, wenn sie vor die Menge treten und ihr Sätze wie »Yes, we can« oder »Ich bin ein Berliner« zurufen.
    Baba meinte immer, jeder Krieg sei ein feiger Dieb. Er würde Vätern ihre Söhne, Müttern ihre Töchter, Familien ihre Häuser und Menschen ihren Verstand rauben. Nur Menschen mit Biss würden es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher